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Dublin, oder: Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verstehen

(EIN ESSAY VON RONALD KURT / 2018)

 

                                                                                      "I  want a very ordered image, but I want it to

                                                                                        come about by chance."  (Francis Bacon)

 I

Der Mensch ist im Selbstverständlichen so sicher wie das Schiff im Hafen. Doch ist die Vorstellung eines Menschen, der die kleine Welt des ihm Bekannten nie verließ und anderes als das Eigene nie kennen lernte, genauso beklemmend wie der Gedanke an ein Schiff, das nie aus seinem Heimathafen herausgekommen ist und sich fest vertäut an Pfählen vor der Kaimauer in sicherem Gewässer wiegt. Der Mensch ist frei. So frei, dass er die Fesseln, die ihn daran hindern, aus dem Vertrauten herauszutreten und sich in andere Wirklichkeiten vorzuwagen, so fest zuziehen kann, dass es ihn schon schmerzt, wenn er nur daran denkt, einen Schritt aus dem Kreis des Gewohnten hinauszusetzen.   

Wir sind Gewohnheitstiere - und haben an die Stelle nicht vorhandener Instinkte ´Habits` gesetzt: bis zur Bewusstlosigkeit einstudierte Muster des Wahrnehmens, Denkens und Handelns, die sich in Prozessen praktischer Bewährung in Selbstverständlichkeiten verkapselt verselbstständigt haben und als automatisierte Antwortgeber den Menschen fraglos machen. Fraglos geltende Regeln, Routinen und Rituale sind zwar einerseits das Lebenselexier geordneten menschlichen Zusammenlebens. Andererseits ermüden, töten sie auch. "Habit is a great deadener" (Beckett). Und vor allem: Habits sind Grenzposten, die jeden Gedanken Gefangen nehmen, der möglicherweise zu Unbekanntem, Neuen, Fremdem führen könnte. Mitunter werden sie auch als vorgezogene Grenzpolizei proaktiv tätig und fangen habitfeindliche Gedanken schon ein, noch bevor sie die Schwelle zum Bewusstsein überschreiten konnten.

Dem habituellen Denken-wie-üblich ist schwer beizukommen (auch deshalb, weil es als Selbstverständliches seinen Ort oft im Off des Bewusstseins hat); ihm zu entkommen, ganz unmöglich: die Gedanken sind eben nicht frei, sondern immer, fast immer, Produkte habitualisierter Denkschemata. Solange wir im Heimathafen unserer Habits vor Anker liegen, lernen wir weder uns selbst noch etwas anderes kennen. Wer Heimat will, soll zuhause seine Habits pflegen. Was ist aber dem zu raten, dem dieses Erkenne-dich-selbst, Erfahre-die-Welt in der Seele brennt?

Weder würde ich dazu raten, mit Gewalt aus dem Gefängnis gewohnter Denk- und Lebensweisen auszubrechen. Noch würde ich empfehlen, im Descartschen Gestus des An-allem-Zweifelns dem Selbst und der Welt auf den Grund gehen zu wollen.

Ich schlage vor auf Reisen zu gehen.

 

II

Im Juli 2017 flog ich für fünf Tage nach Irland; erstens, weil ich Urlaub vom Alltag brauchte und zweitens, weil ich immer schon mal nach Dublin wollte. Mit einem an Top Tipps reichen Irland-Reiseführer, assoziationsnetzartig verknüpften Autor-Text-Bezügen ‒  Joyce: "Mistakes are the portals of discovery.", Yeats: "Life is a long preparation for something that never happens.", Wilde: "We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars" ‒ und einer handvoll handelsüblicher Irlandklischees - katholisch, rote Haare, grüne Wiesen, Whiskey, Regen - landete ich in einer weltoffenen Metropole, die Ausländer des Typs Tourist vorurteilsgerecht zu bedienen weiß. Die erste Begegnung war im Grunde schon die zweite; die erste fand bereits in den Köpfen statt: Im Geiste sah ich mich schon auf grünen Hügeln vor Keltenkreuzen stehen - und der Angestellte im Dubliner tourist office wusste bereits, dass ich mit diesem Gedankenbild zu ihm kommen würde. Ich war noch gar nicht da - und doch kannte man mich schon.

Im tourist office erhielt ich als erstes die Dublin Visitor Map; ein mit vielen Attraktivitätsmarkierungen gespickter Stadtplan, der vorzeichnet, wie Touristen Dublin sehen sollen. Ich fügte mich - halb sollend, halb wollend -, arbeitete die Musts meiner To-do-Liste für Touristen ab und sah das für mich Vorgesehene: St. Patricks Cathedral, Trinity College etc. - und zahlte dafür. Der Blick des Touristen, wohl gelenkt, bringt Dublin viel Geld ein. Wenn der Blick ermüdet und der Tourist Hunger, Durst und Amüsierlust in sich spürt, dann steht das Irish Pub bereit. Neben Guinness oder Ale wird in den Pubs auch sehr viel Irish Folk serviert, eine Seele, Leib und Geist umarmende Mischung aus Musik, Tanz und Story Telling - ohne Notenblätter und Textbücher. Im Szenestadtteil Temple Bar ist Abend für Abend eine ganze Armee von Musikern unterwegs, die das globale Eventpublikum mit lokalem Liedgut in Partystimmung bringt bzw. hält; und überall und immer wieder: "Whiskey in the Jar".

Nun kann man nicht sagen, dass all dies nicht typisch irisch wäre. Es ist ein Teil der objektiven Kultur Dublins, so wie der Regen als ständig wiederkehrendes Naturereignis ein objektiv erfahrbares Klimakennzeichen Irlands ist. Und ich lernte in Dublin zudem viel Neues kennen: in der National Gallery ´entdeckte` ich elektrisierende Bilder des mir bis dahin völlig unbekannten Expressionisten Jack Butler Yeats (1871-1957), einem Bruder des irischen Dichters und Literaturnobelpreisträgers William Butler Yeats (1865-1936); in einer IRAnahen Buchhandlung las ich mich staunend in die derben Aphorismen des Dubliners Brendan Behan (1923-1964) ein ‒ "Every cripple has his own way of walking" ‒ und neben der Statue der der Stadt heiligen Fischverkäuferin Molly Malone hörte ich einen Straßenmusiker die dazu gehörige (inoffizielle) Hymne Dublins singen:

"In Dublin´s fair city, where the girls are so pretty I first set my eyes on sweet Molly Malone.  As she wheeled her wheel barrow through streets broad and narrow crying cockles and mussels alive alive O! Alive alive O! Alive alive O! Crying cockles and mussels alive alive O! " (höre youtube dubliners molly malone)

Nicht nur Texte, Bilder und Musik, alles mir zufällig Begegnende - Gesprächssequenzen, Geräusche Gerüche ... - saugte ich einem trockenen Schwamm gleich in mich hinein. In mir kam nun einiges an subjektiven Eindrücken und objektivem Wissen zusammen. Und wie jeder, der eine Reise tut, hätte ich nun so dies und das zu erzählen gehabt. Mit Hilfe der Formel  ´In x hat P die Merkmale a,b und c  – ich habe es selbst gesehen` könnte ich zum Beispiel sagen: In Irland sind bezüglich Literatur insbesondere die Nobelpreiträger James Joyce, William Butler Yeats und Samuel Beckett zu nennen, – im Rahmen einer walking tour wurde mir das Dublin von James Joyce gezeigt ...

Die Begriffe für die Erfassung des Anderen kommen hier vom Eigenen her. Es sind von zu Hause mitgebrachte Begriffsraster und Vergleichskategorien, denen sich Wissenselemente und Erfahrungsmomente schematisch zuordnen lassen. Ich nenne diese Form des Wissens ´Safariwissen`; auf Dublin bezogen: Man fährt im sicheren Touri-Bus durch den Großstadtdschungel, lässt sich zu Sehenswürdigkeiten führen, schießt Fotos (von sich selbst vor Objekten von Weltrang) und späht dann noch die Stadt nach Trophäen aus - Mitbringsel für die Daheimgebliebenen sind ja meistens ein Muss. 

Auf meiner Safari durch Dublin stellte sich bei mir zunehmend das Gefühl ein, mittendrin außen vor zu sein. Ich war da, mitten in Dublin, aber ich war nicht mit da. Das Leben der Einheimischen war zum Greifen nah, doch ich nahm es wie durch Gitter wahr. Und ich bemerkte, dass ich selbst auch wie durch Gitter wahrgenommen wurde: aus der Sicht der Einheimischen war ich als Tourist ja selbst ein Safariobjekt, also etwas möglicherweise Gefährliches, von dem man sich besser fern hält. Zum Beispiel durch Höflichkeit: Der freundlich erklärte Weg zur nächsten Touristenattraktion sorgt dafür, dass der als Tourist dazugehörige Nichtdazugehörige nahe der eigenen Welt in seiner fernen Parallelwelt bleibt.

In den Bildern von Gitter und Wegweiser spiegelt sich, was Georg Simmel mit dem Begriff ´fremd` als Wechselverhältnis von Nähe und Ferne beschrieb: eine in räumlicher Nähe gespürte seelische Ferne, die soziale Beziehungen so konfiguriert, dass Menschen unter anderen als Andere leben – als Touristen unter Einheimischen zum Beispiel. Für die Aufrechterhaltung dieses außergewöhnlichen Aufeinanderbezogenseins sind höfliche (vom Eigenen weg weisende) Wegweisungen für Touristen genauso gut geeignet wie sich selbst bestätigende Kulturklischees, unterschiedliche Eintrittspreise und Speisekarten für In- und Ausländer und natürlich die feinen Unterschiede im sprachlichen Ausdruck: mit meinem German Accent war ich im Gespräch mit Iren immer zugleich in and out.

Dieses Gefühl der Fremdheit, mittendrin außen vor zu sein, ist ein sozial vermitteltes. Es kann immer dann entstehen, wenn sich im Ich-Du- oder Wir-Ihr-Bezug physische Nähe mit psychischer Ferne paart. Nichts ist als solches fremd. Fremd zu sein ist keine Eigenschaft von Objekten;  es ist vielmehr eine Eigenschaft von Subjekten, etwas als fremd zu bezeichnen, wenn es im Verhältnis zum Vertrauten unvertraut erscheint. Die Bedeutungszuweisung fremd ist aufgrund ihrer Standpunkt- und Subjektabhängigkeit notwendigerweise immer relational. Es ist auch möglich, im Verhältnis zu sich selbst das eigene Ich als fremd zu erfahren, zum Beispiel als Es oder als Anderer; hier ist aber vom Fremden als einer Form der Interaktion die Rede, in der kulturelle Vorverständnisse und soziale Rollenspiele ‒ wie bei meiner Dublin-Safari ‒ dafür sorgen, dass das Ferne in der Nähe in relativ stabilen Beziehungen auf Distanz gehalten wird: indem das potentiell Befremdliche des Fremden interaktiv ent-fremdet wird. Ein soziales Paradoxon: Es ent-fremdet das Fremde, indem es alle möglichen Wege zum möglicherweise Unvertrauten mit Vertrautem verbarrikadiert. Ein Schutzwall, der verhindert, dass man Andere als anders erfährt; zusammengeschustert nicht aus Fässern, Brettern und Reifen, sondern aus Vorurteilen, Denkmustern und Rollenspielen.

Mauern im Kopf sind Grenzen im Denken. Mentale Blockaden markieren No-go-Areas und verhindern, dass wir irgendwo hingeraten, wo wir uns nicht mehr auskennen und Gefahr laufen, in einen Abgrund zu stürzen. Wo aber Menschen in die sozialen Abgründe des Unbekannten, Unvertrauten, Unberechenbaren, Unheimlichen, Unverständlichen stürzen könnten, steht oft schützendes Mauerwerk. Und wo Mauern fehlen, werden Brücken gebaut, Brücken des Verstehens, die sicher über die Abgründe des Sozialen führen sollen. Indes: Die Brücken des Verstehens sind auf Sand gebaut. Sie geben Halt, halten aber nicht viel aus. Das Verstehen ist ein fundamentloses Konstrukt, das uns zwar in dem Glauben bestärken kann, in einer mit anderen geteilten Welt zu leben, aber unter Druck und starker Belastung schnell einstürzen kann. Das Soziale ist fragil, es kann jederzeit zerbrechen. Um das zu vermeiden, schützen, stützen und stärken wir das Soziale so gut es eben geht: mit Erwartungen, Sanktionen, Erfahrungen, Vorurteilen, Erzählungen, Argumenten, Normen, Gesetzen und Werten. Besonders fragile soziale Beziehungen benötigen besonderen Schutz. Den besten Schutz bieten klare Regeln, starke Sanktionen und ein hoher Erwartungsdruck.

In diesem Sinne wirkt sich die die Rolle des Touristen extrem stabilisierend auf das im Grunde sehr fragile Verhältnis von füreinander Fremden aus. Sie schafft Erwartungssicherheit da, wo zu vieles möglich ist und das Soziale jenseits von Erwartbarkeit in Kontingenz zu verpuffen droht.

Mit der Zuschreibung Tourist und der dazugehörigen Zuweisung bestimmter ´frames and scripts` hatte ich eine Rolle zu spielen, aus der es kein Entrinnen gab. Eine andere Rolle als die des Touristen durfte ich nicht spielen. Hier ein Kulturklischeeaustausch, dort eine Führung mit deutschem Audioguide und immer mal wieder ein Gespräch mit Touristen über typische Touristenthemen. Ich merkte, wie enttäuscht ich war und wunderte mich, warum? Die Frage, auf welche Erwartung mein Enttäuschtsein zurückzuführen war – Enttäuschungen spiegeln immer unerfüllt gebliebene Erwartungen wider –, führte mich zu einer Idee, die als nicht bewusste Wunschvorstellung meiner Irlandfahrt zu Grunde lag.

Ich hoffte auf offene Begegnungen von Mensch zu Mensch, auf Gespräche, in denen man unvoreingenommen über das füreinander Fremde redet und auf ein gegenseitiges Interesse an der Kultur des Anderen, das dazu anspornt zu verstehen, welche ´ways of life` es neben dem eigenen sonst noch gibt.

Als Soziologe hätte ich wissen können, dass es im Sozialen weder ganze Menschen noch offene Begegnungen gibt. In sozialen Situationen ist der Mensch dem Menschen kein Mensch, sondern ein Rollenspieler. Und als solcher tritt er nie ganz, sondern immer nur mit einem Teil von sich in Interaktionen ein, um dann als Mündel von Erwartungsbündeln das zu tun, was alle täten, wenn sie an seiner Stelle wären. Das ist der kategorische Imperativ des homo sociologicus.

Erwartungen hin, Erwartungen her (und was ist, nebenbei gefragt, das Soziale eigentlich mehr?); ich wollte die Rolle des Touristen nicht mehr weiter spielen und floh aus Dublin. Nach einer zweistündigen Busfahrt kam ich in Kilkenny an, einer an historischen Monumenten reichen Stadt mit Castle, Kirchen und Klöstern – und sehr vielen Touristen. Um es kurz zu machen: Ich entkam meiner Rolle nicht; im Hotel, in den Museen, Restaurants und Pubs, überall wurde mir in Form einer Positivdiskriminierung wieder die Rolle des Touristen auferlegt. "Da es so gespielt wird ... spielen wir es eben so." (Beckett) Tagsüber Sightseeing und Irish Stew - ein irisches Eintopfgericht - und abends Kilkenny Beer mit Irish Folk. Nichts ist Touristen ferner als das Fremde. Dass der Begriff Fremdenverkehr 1980 durch den Ausdruck Tourismus ersetzt wurde, kommt nicht von ungefähr. Denn als das Reisen durch den Massentourismus zu einem Megamarkt aufwuchs, wurde das Fremde in Form kulturindustriell hergestellter Konsumangebote zur Ware - und damit als Erfahrung so gut wie unmöglich gemacht. Fremdheitserfahrungen sind nicht käuflich, sie beruhen auf der Bereitschaft, für Unbekanntes offen zu sein, um im Verhältnis von Vertrautem und Unvertrautem von der positiven auf die negative Seite zu gelangen. Das Fremde ist in diesem Sinne nur negativ bestimmbar, als etwas Un-Artiges: unbekannt, unverfügbar, unvertraut; ein Nichts, ausgefüllt mit Ahnungen des Andersseins. Das Fremde ist erstens anders und zweitens als man denkt.

Da war es wieder, das Gefühl mittendrin außen vor zu sein. Ich gestand mir ein und zu, gescheitert zu sein, euphemisierte mein erfolgloses Verstehen-Wollen mit dem Mut machenden Beckettsatz: "Try again. Fail again. Fail better.", packte meine sieben Sachen und ging zu der Haltestelle, von der die Busse Richtung Dublin abfuhren. Da stand ich nun, so klug als wie zuvor, war Magister, Doktor, Professor gar, und sah, dass ich nichts verstehen kann. Erwartungslos wartete ich auf den Bus. "Blessed is he who expects nothing, for he shall never be disappointed." (Jonathan Swift)

 

III

Von der anderen Straßenseite her kam eine Frau auf mich zu. Sie war Mitte Zwanzig, trug wie ich einen Rucksack und stellte mir freundlich die Frage, ob dies die Haltestelle für den Bus nach Dublin sei. Ich sagte ´Ja` und freute mich darüber, nicht als Tourist gesehen zu werden und einer Irin mit Insiderwissen weiter helfen zu können. Scheinbar gab es für sie keinen Grund an der Richtigkeit meiner Auskunft zu zweifeln; jedenfalls ordnete sie sich ohne andere zu fragen in die Gruppe der Wartenden ein. Als es kurze Zeit später stark zu regnen begann, bot ich der jungen Dame die Hälfte meines Schirmes an. Sie willigte wortlos ein. Dann fuhr auch schon der Bus nach Dublin vor. Ich stieg ein und nahm in der dritten Reihe den Fensterplatz auf einem leeren Zweier ein. Sie setzte sich neben mich. Nein, das war nicht der Anfang einer Liebesgeschichte; es war, besser noch, der Anfang eines Gesprächs.

In der zweckfreien Zwischenzeit, die uns der Zufall schenkte, sprachen wir über alles Mögliche: Irland, Deutschland, Politik, Kultur, uns selbst. Was wir sagten, sagten wir aus dem Moment heraus. Es ging hin und her und immer weiter ‒ "Conversation should touch everything, but should concentrate itself on nothing" (Oscar Wilde) ‒ und es dauerte nicht lang bis die Konversation einer weiten Sinnlandschaft glich. Das ´Was` unseres Redens korrelierte dabei mit einem besonderen ´Wie`. Alle Satz waren ichgefärbt, sagten: ´so sehe ich das`, nie: ´so ist es`. Unser Gespräch wurde durch ein doppeltes ´Ich denke` perspektiviert. Aus diesen subjektiven Perspektiven heraus redeten wir über unsere Lebenswelt ( – also nicht über die Welt an sich, sondern über die Welt für uns, mit all den ihr eigenen Selbstverständlich-, Wirklich- und Wichtigkeiten). Mit dieser Art des Redens luden wir uns wechselseitig zur Perspektivenübernahme ein. Und – hier nehme ich an, dass sie wie ich empfand – es gelang uns gut, die subjektive Perspektive des anderen einzunehmen. Glückt das gedankliche Hineinversetzen, dann ist es fast so als nähme man die Welt vom Innen eines Anderen wahr. Das ist das unerreichbare Ziel der Kunst des Verstehens: den Standpunkt eines anderen Menschen einnehmen, um den Sinn seiner Denk- und Lebensweisen aus seiner Sicht nachzuvollziehen.

Das Entscheidende beim Verstehen ist der Wille zum Sprung in die Innenwelt eines Anderen, und dieser Sprung ‒ der letztlich ein Gedankensprung im eigenen Bewusstsein ist ‒ war für uns ein leichter, weil die Bedingungen günstig waren: für zwei Stunden entlastet vom Handlungsdruck des Alltagslebens konnten wir uns ohne einengende Erwartungszwänge und ohne Angst vor Konsequenzen offen begegnen, ‒ und es geht doch!

Ich lernte ihr Irland, sie mein Deutschland kennen; soweit das in Perspektivenübernahmen eben möglich ist. Sie nahm mich mit in ihre Welt, ich nahm sie mit in meine. Und vieles von dem, was uns, mit den eigenen Augen gesehen, vordem unverständlich und fremd erschien, kam uns dann im Verlauf des Gesprächs, mit den Augen des Anderen gesehen, verständlicher und vertrauter vor. An Vieles kann ich mich nicht mehr erinnern. Sie erzählte mir von ihrem Onkel, der in den 70ern für die IRA gekämpft hatte, vom Wiedererstarken der republikanischen Sinn-Féin-Partei nach dem Brexit und von ihrem Studium der Geschichte und Medienwissenschaften in Dublin; aber hier werde ich schon unsicher - erinnere ich noch oder erfinde ich schon? - und breche besser ab.

Trotz des Trugs, der dem Erinnern innewohnt, weiß ich allerdings noch sehr genau, dass ich das Gespräch so erlebte als ob ich hinter ihr auf dem Motorrad sitzend über ihre Schulter schauend sehen kann, wie sie durch das labyrinthische Bedeutungsgewebe ihrer Lebenswelt fährt und ich dabei jede ihrer Bewegungen unmittelbar mitvollziehe. Legt sie sich in die Kurve, lege ich mich mit hinein, - so kam ich im Verstehen gut voran. Im Blick über ihre Schulter sah ich nicht nur, was sie sah, ich sah auch, während sie sich in ihrer Welt fortbewegte, wie sie von A über B nach C und D gelangte und dadurch Denkfiguren und Sinnzusammenhänge schuf. So lernte ich die Infrastruktur ihrer Lebenswelt kennen: was sie wie womit warum verband.

Das entfremdet das Fremde! Und mehrt das Vertraute ‒ und das Vertauen. Am Ende der Busfahrt schrieb mir die Irin den Titel des ihrer Meinung nach Irischsten aller Gedichte auf meine Dublin Visitor Map ‒ "The Lake Isle of Inisfree" von W.B. Yeats ‒ und auf dem Stadtplan zeichnete sie ein Kreuz am Lower Ormand Quay ein. Dort würde ich in ihrem Lieblings-Book-Shop "The Winding Stair" das Yeats-Gedicht bei einer von der Besitzerin servierten Tasse Tee in aller Ruhe lesen können.

So fand das Verstehen außerhalb der Grenzen des Gesprächs eine Fortsetzung: indem ich nun auf ihren Wegen durch Dublin ging. Am selben Tag noch besuchte ich die kleine Buchhandlung an der Liffey und las das Gedicht.

 

 The Lake Isle of Innisfree

I will arise and go now, and go to Innisfree,  
And a small cabin build there, of clay and wattles made;  
Nine bean rows will I have there, a hive for the honey bee,  
And live alone in the bee-loud glade.  
And I shall have some peace there, for peace comes dropping slow,         
Dropping from the veils of the morning to where the cricket sings;  
There midnight's all a glimmer, and noon a purple glow,  
And evening full of the linnet's wings.  
  
I will arise and go now, for always night and day  
I hear lake water lapping with low sounds by the shore;
While I stand on the roadway, or on the pavements gray,  
I hear it in the deep heart's core.

Wiliam Butler Yeats. In: The Pocket Yeats. Dublin: Gill Books. 2017. 53

 

Die Seeinsel von Innisfree

Ich steh jetzt auf und gehe nach Innisfree sofort,

Aus Lehm und Reisig bau ich mir eine Hütte dort,

Und habe neun Reihen Bohnen, einen Bienenvolk, das brummt,

Und leb allein im Wald, von Bienen umsummt.

Dort find ich etwas Frieden, dort tröpfelt Frieden stille,

Tropft von des Morgens Schleiern ins Gras, da singt die Grille;

Dort wird die Nacht ein Glitzern, der Mittag Purpurschein,

Der Abend ein Geräusch von Hänflingsflügeln sein.

 

Ich steh jetzt auf und gehe, denn ich hör Tag und Nacht
Den See ans Ufer plätschern, die Wellen kräuseln sacht:
Gleich, ob ich auf dem Feldweg, auf grauem Pflaster steh,
Ganz tief im Herzen hör ich den See.

(Übersetzt von Christa Schuenke. In: W.B. Yeats:

Die Gedichte. Hg. v. Norbert Hummelt
München: Luchterhand Literaturverlag 2005)

 

 

Sehnsuchtsvoller geht es kaum. Als Yeats 1888 in London durch die Fleet Street ging, ließ ihn das Geräusch von Wasser und der Anblick eines Springbrunnens in einem Schaufenster in einer plötzlichen Kindheitserinnerung an Seewasser in der irischen Heimat denken. Mit dem romantischen Gedicht "The Lake Isle of Innisfree" bietet Yeats allen Iren, insbesondere denen, die im Ausland leben, eine imaginäre Heimat an. Ein wunderbarer Widerspruch: Das Alleinsein in der Natur als gemeinschaftsstiftendes Symbol für Millionen, - und so auch für sie, die mir nun fern von mir nah war: sie arbeitet in Australien und war kurz in Kilkenny, um die Heimat wiederzusehen.

 

Als ich letztens mit dem Bus fuhr und Regentropfen am Fensterglas hinunterliefen, da wünschte ich mir unser Gespräch zurück. Verstehen - es gibt nichts Selteneres in der Welt. Das meiste ist Hin-und-Her-Gerede. Das ist alles.  "To live is the rarest thing on earth, most people exist, that´s all." (Oscar Wilde)