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Das Fühlen der Anderen. Eine Reflexion auf Gefühle aus hermeneutischer Sicht

(Ein Text von Ronald Kurt)

Von der Bibelexegese über Schleiermachers Kunstlehre des Verstehens bis hin zur sozialwissenschaftlichen Hermeneutik der Gegenwart: Fluchtpunkt der Sinnzusammenhänge rekonstruierenden Zeicheninterpretation war und ist das Denken des Anderen (– als genetivus subjectivus und objektivus). Das Fühlen des Anderen (– auch als genetivus subjectivus und objectivus!) ist in der Hermeneutik hingegen nie so recht Thema gewesen. Aus guten Gründen. Erstens ist es wissenschaftlich heikel, die Lebensäußerungen Anderer auf Gefühle hin auszulegen, zweitens gilt das Fühlen nicht als Methode qualitativer Sozialforschung; im Gegenteil: Um die Wissenschaftlichkeit der Operation des Verstehens nicht zu gefährden, sollten Gefühle bei der Erhebung und Deutung von Daten eigentlich keine Rolle spielen.

 Es git aber auch gute Gründe dafür, Gefühle in die Hermeneutik aufzunehmen: als Gegenstand, und als Methode. Zum einen ist es evident, dass Gefühle im Seelenleben und im Sozialen eine wichtige Rolle spielen und das wissenschaftliche Verstehen des alltäglichen Verstehens zu kurz greift, wenn es nur nach dem Kognitiven fasst und das Emotionale außen vor lässt. Zum anderen wäre darüber nachzudenken, ob Gefühle in der Hermeneutik als Mittel der Erkenntnis einsetzbar sind.

Der Text beginnt mit einem Kapitel über die Geschichte der Hermeneutik, in dem ich die Entwicklung der hermeneutischen Methodik unter den Vorzeichen der Differenz  'Denken – Fühlen' rekonstruiere. Die Reflexion auf Gefühle wird in den Kapiteln 2 bis 6 mit soziologischen und sozialphänomenologischen Fragestellungen weitergeführt. Ausgehend von Max Schelers Schrift "Wesen und Formen der Sympathie" versuche ich dann in den letzen beiden Kapiteln Wege in Richtung einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik zu gehen, die neben dem Denken auch das Fühlen miteinbezieht.

 

 1. Zur Geschichte der Hermeneutik

Zunächst eine lose Sammlung nützlicher Textauslegungsregeln (vgl. Gadamer 1979, Kurt 2004, Kurt/Herbrik 2014), die insbesondere bei der von kirchlicher Dogmatik dominierten Bibelexegese zum Einsatz kamen, entwickelte sich die Hermeneutik (gr. hermeneuein: aussagen, auslegen, übersetzen) vor allem im Kontext des Protestantismus weiter. Martin Luther (1483-1546) legte mit seiner Übersetzung der Heiligen Schriften ins Deutsche und dem Sola-scriptura-Prinzip – allein die Schrift zählt – den Fokus auf das selbstständige Bibelstudium. Von der Klarheit der Schrift ausgehend, kanzelt er die in der christlichen Antike von Origenes (ca. 185-254) und anderen Exegeten entwickelten Verfahren allegorischer Textinterpretation als "lauter Dreck" ab (Luther in S. Luther 2014, S. 140) und vertraut sich ganz den Worten an. "Gott gibt dem Wort im bestimmten Augenblick Gewalt, so daß es dem Menschen als ein jetzt eben gesprochenes  und auf ihn persönlich hingerichtetes erscheint" (Luther in ebd. S. 140). Luther deutet das geschriebene Wort auf diese Weise zu einem von Gott gesprochenen um. So gesehen ist das Lesen der Bibel eine hoch emotionale Angelegenheit: eine Begegnung, in der Gott unmittelbar zum Menschen spricht.

 

Der Lutherschüler Matthias Flacius Illyricus (1520-1575) präsentierte mit seinem Werk Clavis scripturae sacrae (1567) (Schlüssel zur Heiligen Schrift) ein Organon zur Exegese der Bibel als einem aus Teilen bestehenden ganzheitlichen Organismus. Die Organismusmetapher verlebendigt die Bibel, emotionalisiert aber die Exegese nicht. Gleichwohl kommt auch Gefühlen eine Funktion beim Textverstehen zu. Flacius schreibt in seinen "Anweisungen, wie man die Heilige Schrift lesen soll", es sei "sehr nützlich, die göttliche Hilfe zu erflehen, damit diese unser ganzes Unternehmen von vornherein beseele" (Flacius 1968, S. 89). Es ist bemerkenswert, dass Glaube, Hoffnung und Liebe als die in den Heiligen Schriften als höchstrangig herausgestellten Seelenkräfte des Menschen gegenüber der in der Bibel wahrlich nicht hoch gehandelten Kompetenz des Denkens in der Praxis der Exegese letztlich nur eine Nebenrolle gespielt haben.

 

Johann Conrad Dannhauer (1603-1666) gab mit seinem Buch Hermeneutica sacra sic methodus exponendarum sacrum litterarum (1654) (Theologische Hermeneutik oder die Methode der Auslegung der Heiligen Schrift) der Hermeneutik ihren Namen und ordnete sie als Vernunftlehre der Logik zu. Mit der Platzierung der Hermeneutik in der Logik geraten die Affekte in Misskredit: Von seinen Gefühlen darf sich der Interpret bei der Ermittlung des Sinns von Sätzen auf keinen Fall irritieren lassen.

 

Der Pietismus antwortet auf diese Entwicklung mit einer Aufwertung der Affekte. "Das Lieblingsstück der pietistischen Hermeneutik war die Lehre von den Affekten" (Gadamer 1979, S. 21). Johann Jacob Rambach (1693-1735), Nachfolger von August Hermann Francke (1633-1727) in Halle, geht in seiner Hermeneutik davon aus, dass Gedanken mit Affekten verknüpft sind und dass "die Menschen [...] ihren Affekt durch die Stimme an den Tag zu legen (pflegen) und durch gestus" (Rambach in Gadamer 1979, S. 67). Hätte man den Verfassern der Heiligen Schriften dabei zusehen und zuhören können, wie sie das, was sie schrieben, aussprachen, so würden wir ihre Worte "weit besser verstanden haben, weil ihr Affekt per modulationem vocis & per gestus corporis uns deutlicher würde sein in die äußerlichen Sinne gefallen" (ders. in ebd. S. 68). Rambach bedauerte stark, dass die Bibelexegeten "dieses Vorteils entbehren müssen" (ders. in ebd. S. 68), – und ahnte nicht, dass er mit seiner Forderung nach dem Erforschen nicht nur des Was, sondern auch des Wie des Sprechens einen zentralen Anspruch heutiger Sozialforschung vorweg nahm. Genauso wenig konnte er ahnen, dass es einmal möglich sein würde, die Sprechakte von Menschen mit Videokameras aufzunehmen.

 

Der Theologe und Geschichtstheoretiker Johann Martin Chladenius (1710-1759), der das erste deutschsprachige Hermeneutikbuch verfasste – die Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften – , vollzog mit dem Begriff des Sehe-Punkts eine Wendung der hermeneutischen Aufmerksamkeit vom Objekt der Auslegung hin zum Subjekt der Auslegung. Chladenius definiert den Sehe-Punkt so: "Diejenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursach sind, daß wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Punckt nennen" (Chladenius 1969, S. 187, §309). Hier wird die Subjektivität, Leiblichkeit, Situiertheit, Perspektivität, Relativität und Geschichtlichkeit des Verstehens buchstäblich auf den Punkt gebracht. Zweifel an der Objektivität des Verstehens hatte Chladenius indes keine. Sein voraufklärerisches Vertrauen in die Vernunft und sein Diktum, dass jeder "seine eigene Kraft zu gedencken brauchen soll" (Chladenius 1969, S. 105) ließ hier keine Skepsis zu, und natürlich auch keine Gefühle.

 

So kristallisierte sich im Protestantismus das hermeneutische Denken als eine rationale Methodik heraus, die sich vom 16. Jahrhundert bis zu Aufklärung und Romantik immer weiter von ihren religiösen Wurzeln loslöste und der sich schließlich eine anthropologische Fundierung unterschob.

 

Im Hinblick auf die Säkulariserung und Historisierung des hermeneutischen Denkens ist zudem auf die Nichtprotestanten Baruch de Spinoza (1632-1677) und Giambattista Vico (1668-1744) zu verweisen. Spinoza setzt sich in seinem Tractatus Theologico-Politicus im Kapitel über die Auslegung der Schrift für eine autoritätsfreie, historisch-kritische Interpretation der Bibel ein, die darüber aufklärt, was in den heiligen Schriften wahr, unklar oder widersprüchlich ist, wie der gesellschaftlich-geschichtlich bedingte Gebrauch eines Wortes seine Bedeutung bestimmt und welcher Verfasser in welcher Zeit in welcher Situation warum für wen in welcher Sprache schrieb. Die Fokussierung auf das von und für Menschen Gemachte – und deshalb von Menschen zu Verstehende – setzt sich bei Vico in der Scienza nuova (1720) fort. Er stellt es als unbezweifelbare Wahrheit hin, "daß diese politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden" (Vico 2003, S. 142, §331).

 

Mit der Kunstlehre des Verstehens des Philosophen, Predigers und Platonübersetzers Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) erwirbt die Hermeneutik zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Status einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin. Alles Geschriebene und Gesprochene zu möglichen Gegenständen hermeneutischer Reflexion erklärend, geht es für Schleiermacher in der "Kunst, die Rede eines anderen richtig zu verstehen" vor allem um zwei Auslegungsaufgaben, eine grammatische und eine psychologische: "die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Tatsache im Denkenden" (Schleiermacher 1995, S. 75). "Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente (des grammatischen und psychologischen)" (ebd. S. 79). Schleiermacher stellt die beiden Interpretationsrichtungen zwar ausdrücklich als gleichwertig nebeneinander, doch kulturgeschichtlich betrachtet kündigt sich hier mit der Thematisierung des Individuellen ein neuer Zeitgeist an: der romantische. Die Geheimnisse des Ich, das schöpferische Individuum und die Abgründe subjektiver Selbsterfahrung ziehen Romantiker wie Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schlegel und eben auch Friedrich Schleiermacher in ihren Bann. Nicht ganz zu Unrecht wird die Hermeneutik Schleiermachers deshalb auch oft mit dem Etikett 'romantisch' versehen. Soviel ist sicher: Die Hermeneutik Schleiermachers setzt am Innen an. Indem der Interpret in hermeneutischen Zirkeln das Einzelne vom Ganzen und das Ganze vom Einzelnen her begreift und sich dabei in Perspektivenübernahmen "gleichsam in den anderen verwandelt" (ebd. S. 169), soll er versuchen vom Innen des Anderen her den Sinn des sprachlich zum Ausdruck Gebrachten zu rekonstruieren. In diesem Prozess, in dem Schleiermacher methodisch dem Nichtverstehen dem Vorrang für dem Verstehen gibt, geht es ausschließlich um die Gedanken des Anderen, nicht um seine Gefühle. Gefühle thematisiert Schleiermacher in seiner Glaubenslehre  – als Quellpunkt von Frömmigkeit –, in seiner Hermeneutik jedoch sind sie selbst in der das Individuelle aufsuchenden psychologischen Interpretation irrelevant. Herders Aufruf zur Einfühlung – "... gehe in das Zeitalter, in die Himmelsgegend, die ganze Geschichte, fühle dich in alles hinein" (Herder 1891, S. 503) – fand in der hermeneutischen Methodenlehre Schleiermachers keine Resonanz. Vom Überschwang der Gefühle, wie er seinerzeit üblich war – "gefühl ist alles" (Goethe in Grimm 1897, S. 2181), "ich fühle mich! ich bin!" (statt: 'ich denke, also bin ich') (Herder in Grimm 1897, S. 2175) – ließ sich Schleiermacher in seiner Hermeneutik jedenfalls nicht (ver)leiten. Dass Verstehen und Einfühlen streng voneinander zu trennen sind, hat im Anschluss an Eduard Spranger auch noch einmal Otto Friedrich Bollnow betont: "Die Einfühlung ist ein Vorgang gefühlsmäßiger Identifizierung mit dem andern Menschen, das Verstehen dagegen der rein theoretische Vorgang einer denkenden Durchdringung seelischer und geistiger Zusammenhänge" (Bollnow 1982, S. 76).

 

Trotz aller Fokussierung auf die Nachbildung von Sinnzusammenhängen im Denken Anderer lässt Schleiermacher in seiner Hermeneutik auch einen Spielraum für Gefühle. Denn beim Bedenken des von anderen Gedachten darf das Fühlen in der Form von Intuitionen seiner Meinung nach durchaus eine Rolle spielen. Weil die Methoden der Hermeneuik nicht mechanisch angewandt werden können, hat das Auslegen für Schleiermacher "den Charakter der Kunst" (1995, S. 81). Für die Hermeneutik lassen sich deshalb nur Kunstregeln angeben, "deren glückliche Anwendung auf einem richtigen Gefühl beruht" (ebd. S. 242).

 

Mit Wilhelm Dilthey (1833-1911) erfährt die Hermeneutik eine Neuausrichtung. In seiner Kritik der historischen Vernunft den Begriff des Geistes durch den des Lebens und damit das blutleere Subjekt Kants mit dem Menschenbild des wollenden, fühlenden und vorstellenden Individuums ersetzend, erweitert Dilthey den Gegenstandsbereich der Hermeneutik: Alle "dauernd fixierten Lebensäußerungen" (Dilthey 1957, S. 319), nicht nur Texte, sondern auch Bilder, Gärten oder Ruinen, gelten ihm als potentielle Interpretationsobjekte. Er grenzt darüber hinaus das (nicht objektive, sondern Bewusstseinstatsachen erforschende) geisteswissenschaftliche Verstehen trennscharf vom naturwissenschaftlichen Erklären ab –"Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir" (ebd. S. 144) – und er fügt das wissenschaftliche wie das alltägliche Verstehen in den Kontext der Geschichtlichkeit ein: Der, "welcher die Geschichte erforscht, (ist) derselbe, der die Geschichte macht" (Dilthey 1958, S. 278) und für jeden einzelnen gilt, dass er nur in einer Atmosphäre der Gemeinsamkeit leben kann, da, wo das "Verstehen ein Wiederfinden des Ich im Du (ist)" (ebd. S. 191). Das Verstehen, für Dilthey der "Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen" (Dilthey 1957, S. 318), ist als Sinn rekonstruierende Deutung von Lebensäußerungen immer relativ, strukturell hypothetisch und prinzipiell unabschließbar. Die Rekonstruktion von Innerem anhand von Äußerem hat Grenzen: Individuum est ineffabile; doch: "An jedem Punkt öffnet das Vestehen eine Welt" (Dilthey 1958, S. 205). Mit Welt meint Dilthey nicht die objektive Wirklichkeit der Naturwissenschaften, sondern immer die in individuellem Erleben sich konstituierende subjektive Wirklichkeit von Menschen, die im verstehenden Bezug mit anderen Menschen zusammenlebend Kultur kreieren und tradieren.

 

Gelingen kann das Verstehen Dilthey zufolge deshalb, weil alle Lebensäußerungen Ausdruck eines Geistigen sind, dem Sinnzusammenhänge innewohnen, durch die der Verstehende mit dem Verstandenen immer schon gemeinschaftlich verbunden ist. In dieses Verbindende bettet Dilthey das Verstehen ein. Auch Schleiermacher hatte dem Verstehen schon etwas Gemeinsames zugrunde gelegt, doch argumentierte er dabei nicht historisch, sondern noch psychologisch, indem er behauptete, dass "jeder von jedem ein minimum in sich" trage (Schleiermacher in Luther 2014, S. 247). Dilthey begründet die dem Verstehen inhärente Gemeinsamkeitsannahme statt dessen mit dem Eingetauchtsein des Einzelnen in eine mit anderen geteilte Sinnwelt. Nachzuerleben, was andere erlebt haben, ist für Dilthey nur dann möglich, wenn Ich und Du im Grunde Gleiche sind. Negativ formuliert: "Ein Gefühl, das wir nicht erlebt haben, können wir in einem anderen nicht wiederfinden" (Dilthey 1958, S. 196) Gefühle sind in Diltheys weit gefasstem Begriff des (Seelen-)Lebens mitenthalten, bleiben aber in seiner Methodenlehre bei der Reflexion über das Nacherleben unberücksichtigt. Auf "das Verhältnis dieses Begriffs zu dem des Mitfühlens und dem der Einfühlung" (ebd. S. 215) geht Dilthey nicht systematisch ein, obwohl ihm klar ist, dass ein "Nachfühlen fremder Seelenzustände" (Dilthey 1957, S. 317) möglich ist und "das Mitfühlen die Energie des Nacherlebens verstärkt" (Dilthey 1958, S. 215).

 

Dilthey setzt sich in seiner Hermeneutik auch deshalb nicht systematisch mit Gefühlen auseinander, weil sein Hauptaugenmerk auf der Interpretation von Texten liegt. Die eigentlich hermeneutische Tätigkeit besteht für Dilthey "in der Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins" (ebd. S. 217). Trotz dieses Bekenntnisses zur Hermeneutik als Textwissenschaft kommt Dilthey in der Geschichte dieser wissenschaftlichen Disziplin eine Schlüsselrolle zu. Das hermeneutische Denken, das zunächst um das Göttliche, dann um das Allgemein-Menschliche, dann, insbesondere bei Schleiermacher, um das Individuelle gravitierte, findet bei Dilthey mit dem Gesellschaftlichgeschichtlichen einen neuen Schwerpunkt.

 

Der Aspekt des Hineingeborenwerdens in soziohistorisch präfigurierte Sinnwelten wird im hermeneutischen Denken von Martin Heidegger (1889-1976) und Hans-Georg Gadamer (1900-2002) weiterentwickelt. Dass jedes Verstehen auf Vorverständnissen beruht, also nie voraussetzungsloses Erkennen sein kann, arbeitet Heidegger in Sein und Zeit als "Vor-Struktur des Verstehens" (Heidegger 1993, S. 151) heraus. In Wahrheit  und Methode führt Gadamer den Gedanken von der "Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens" (Gadamer 1990, S. 274) mit der Behauptung fort, dass sich im Verstehen, gleichsam hinter dem Rücken des Verstehenden, Geschichte im Gespräch tradiert; – woraus für Gadamer folgt, dass Verstehen "nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken (ist), sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen" (Gadamer 1990, S. 295), in dem durch Horizontverschmelzungen der Abstand der Zeiten und Kulturen tilgbar ist. Als Bedingung für die Möglichkeit dieser Art des Verstehen ist für Gadamer eine hermeneutische Grundhaltung vonnöten: Die Bereitschaft, sich vom anderen etwas sagen zu lassen, die Unterstellung eines Sinnganzen, der Vorrang der Frage und die Fähigkeit, das eigene Verstehen selbstreflektiv analysieren zu können.

 

Als unmöglich erscheint ein solches Verschiedenheit einschmelzendes Verstehen unter der Voraussetzung einer unaufhebbaren Differenz zwischen Ich und Du bzw. Wir und Sie, wie sie unter anderen von Waldenfels und Levinas behauptet wird. Vom Sehepunkt dieser Hermeneutik sind sich die Menschen am nächsten im Nichtverstehen; in dem Paradox, dass die Präsenz des Anderen in seiner Absenz erfahrbar ist. "Die Abwesenheit des Anderen ist gerade seine Anwesenheit als des anderen" (Lévinas 1984, S. 65). In dieser negativen Hermeneutik kommt dem Ungesagten, Unsagbaren, Unausdrückbaren, Unübersetzbaren, Unbewussten, Unmitteilbaren, Unverfügbarfremden besondere Bedeutung zu. Auch erhält hier das Körperliche, Performative und Ereignishafte im Verhältnis zur Sprache und zum Geistigen mehr Gewicht (vgl. Mersch 2010).

 

2. Hermeneutik als Passion

 Nach diesem sehr selektiven Rekurs auf die Geschichte der Hermeneutik möchte ich an dieser Stelle kurz beschreiben, wie ich selbst zur Hermeneutik gekommen bin. Diese Selbstpositionierung soll nachvollziehbar machen, von welchem Standpunkt aus und mit welcher Intention ich diesen Text hier geschrieben habe.

 

Es war, wie so oft im Werdegang von Wissenschaftlern, kein Text, der mein Interesse für die Hermeneutik weckte, sondern eine Person: Hans-Georg Soeffner. Es dauerte lange bis ich als wissenschaftlicher Assistent an Soeffners Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie in Konstanz seine an Max Weber, Alfred Schütz, Edmund Husserl und Helmuth Plessner anknüpfende Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik verstand (vgl. Soeffner 1989), aber nach zehn Jahren gemeinsamen Lehrens und Forschens war seine hermeneutische Haltung irgendwie auch die meine geworden. Insbesondere die Praxis der Auslegung, und hier vor allem die Sequenzanalyse, das sich Wort für Wort durch Hypothesenbildung und Hypothesenprüfung vorantastende Sinn rekonstruieren, faszinierte mich. Die Klassiker der Hermeneutik –  insbesondere Schleiermacher, Dilthey und Gadamer – las ich zunächst eher nebenher, dann, nach meiner Habilitation 2002, gründlich. Die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit diesen Autoren gingen in mein Lehrbuch Hermeneutik. Eine sozialwissenschaftliche Einführung ein (vgl. Kurt 2004).

 

Die sozialwissenschaftliche Hermeneutik, in die ich durch Hans-Georg Soeffner in den 90ern einsozialisiert wurde, und die ich seit dem in vielen Forschungsprojekten (u.a. mit den Herausgebern dieses Buches Ronald Hitzler, Jo Reichertz und Norbert Schröer) auf Texte, Bilder und Videos anwandte, lehre ich nunmehr seit fast 25 Jahren im Hochschulbetrieb: theoretisch als skeptische Denkhaltung und praktisch als Sinn rekonstruierende Zeicheninterpretation.

 

Kennzeichnend für diese hermeneutische Haltung ist das Abstand nehmen vom alltäglichen Verstehen; pointierter: die Negation des Immer-schon-verstanden-habens. Im Alltag verstehen wir, ohne dass uns bewusst wäre, dass und wie wir verstehen. Selbstverständlich gewordene Deutungsmuster sorgen dafür, dass sich im Wohlvertrauten und Bekannten nahezu alles wie von selbst versteht. In der Alltagspraxis ist das Verstehen ein bewährte Deutungen bestätigendes Zuordnen von Zeichen in bereit stehende Wissensbestände. In der wissenschaftlichen Praxis hingegen muss das Verstehen methodisch kontrolliert geschehen: als ein selbstreflexives Fremdverstehen, in dem es den Sinn gegebener Zeichen aus der Perspektive des Zeichensetzenden rekonstruktiv zu deuten gilt.

 

Als passionierter Hermeneut bin ich nach wie vor fest davon überzeugt, dass es nur im Modus methodisch kontrollierten Verstehens möglich ist, Andere mit anderen Augen zu sehen und, im Sinne Schleiermachers, besser zu verstehen als sie sich selbst verstehen. Ich erinnere mich jedenfalls an keinen Interpretationsprozess, der in diesem Sinne nicht erkenntniserweiternd gewesen wäre; an keinen.

 

3. Passionen als Gegenstand der Hermeneutik

 Dennoch, seit einigen Jahren verspüre ich ein Unbehagen an der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. Seit Diltheys Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Hermeneutik auf alle Lebensäußerungen ist die Sprache zwar nicht mehr das alleinige Objekt der Hermeneutik, doch ist ihr auch heute noch die Verwurzelung in der Textauslegung sehr deutlich anzumerken, auch bzw. gerade da, wo sich die sozialwissenschaftliche Hermeneutik nichttextförmigen Daten wie Bildern, Klängen und Videos zuwendet. Der Frage, ob bzw. in wie weit Methoden der Bild-, Musik- und Videohermeneutik auf Textauslegungstechniken beruhen, lasse ich hier dahingestellt. Auch auf die stark textzentrierte objektive Hermeneutik von Ulrich Oevermann gehe ich hier nicht weiter ein.

 

Mein Punkt ist, dass das A und O der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik nach wie vor die Sinnrekonstruktion ist: das Typen bildende Nachbilden von Sinnzusammenhängen, die im sozialen Handeln zum Ausdruck kommen.

 

Mit der Aufgabe, anhand "dauernd fixierter Lebensäußerungen" (Dilthey 1957, S. 319) durch methodisch kontrolliertes Verstehen Modelle herzustellen, mit denen sich die bewussten oder auch nicht bewussten Gedankengebilde konkreter Akteure in einem abstrakten "in sich einheitlichen Gedankenbilde" (Weber 1968, S. 191) idealtypisch erfassen lassen, beschränkt sich die sozialwissenschaftliche Hermeneutik auf die kognitiven Aspekte sozialer Wirklichkeit. Und von dieser Wirklichkeit kann sie in der Rückwendung auf das Geschehene auch nur das in den Blick nehmen, was vom Leben übrig blieb: Dokumente, die Transkription eines Interviews, Fotografien oder die audiovisuelle Aufzeichnung einer Alltagssituation. Ohne diese objektiven Daten fehlte der Interpretation die Empirie, und damit die Wissenschaftlichkeit.

 

Das ist in sich stimmig, führt mich aber zu zwei Fragen: Kann die sozialwissenschaftliche Hermeneutik nicht nur auf die kognitiven, sondern auch auf die emotionalen Aspekte sozialer Wirklichkeit Bezug nehmen? Und, auf diese Frage gehe ich am Ende dieses Textes ein: Muss sie sich damit begnügen, in ex post Analysen die materialen Reste menschlichen Handelns Sinn gebend auszulegen? Meine Antwort auf die erste Frage lautet: Ja.

 

4. Gedanken und Gefühle

 Zur Begründung meines 'Ja' setze ich noch mal bei der Innen-Außen-Unterscheidung der philosophischen Hermeneutik an. Bei Schleiermacher ist das Auslegen sprachlicher Zeichen ein Zurückführen von Äußerem auf Inneres (als psychisch Individuellem und sprachlich Allgemeinem). Bei Dilthey, und gewichtiger noch bei Gadamer, ist das Auslegen ein Zurückführen von Lebensäußerungen auf Inneres auf Geschichtliches. Und in der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, wie ich sie kenne und praktiziere, ist das Auslegen ein Zurückführen von Handlungen auf Inneres auf Gesellschaftliches: nicht um den Menschen als sozialkulturell determiniert zu konzeptionieren, sondern, im Gegenteil, um im Rahmen empirischer Einzelfallanalysen nachvollziehen zu können, was für Menschen (subjektiv) wirklich ist, was ihnen (objektiv) möglich ist und wie sie als bedeutungsbedürftige und sich selbst bestimmen müssende Individuen ihrem Leben in sozialem Handeln Sinn verleihen.

 

Das Innen ist das diese Hermeneutiken Verbindende. Es ist der Dreh- und Angelpunkt, die Mitte des Verstehens. Diesem Innen gehören neben Gedanken aber auch Gefühle zu; – nicht als Dinge, sondern, phänomenlogisch formuliert, als Erlebnisformen: als Ströme des Denkens und Fühlens, die untrennbar zusammengehören. In Anlehnung an James` Konzept des Gedankenstroms ließe sich hier auch von einem Gefühlsstrom sprechen. Mit Alfred Schütz kann hier "daran erinnert werden, daß James den Begriff 'Gefühl' (feeling) mit dem des 'Gedankens' (thought) und des Bewußtseins synonym verwendet" (Schütz 2005, S. 45, Fußn. 14). Dass und wie Gedanken mit Gefühlen zusammenhängen, hatte im Kontext der pietistischen Hermeneutik schon Johan Jacob Rambach angesprochen (s.o) – doch blieb seine Affektenlehre in der Geschichte der Hermeneutik wirkungslos. Hieran, und natürlich an Diltheys Konzeption des Menschen als wollendes, fühlendes und vorstellendes Lebewesen, ließe sich anknüpfen und nach den Gefühlen und ihrer Bedeutung für das Denken und Handeln von Menschen fragen.

 

Wie Gedanken so sind auch Gefühle empirisch nicht erfahrbar. Im Gegensatz zu den objektiv gegebenen und sinnlich wahrnehmbaren Dingen der materiellen Welt sind Gedanken und Gefühle Tatsachen des subjektiven Seelenlebens. Als solche sind sie subjektiv evident, also unbezweifelbar und unhintergehbar wahr und wirklich. In diesem Sinne ließe sich Kants Grundsatz: "Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können" mit dem Zusatz versehen: 'Das: Ich fühle, muss alle meine Vorstellungen begleiten können.' Indes: Das Denken und Fühlen findet in der Geschlossenheit des teils bewussten, teils nicht bewussten Seelenlebens eines Individuums statt und ist deshalb für andere Individuen nicht zugänglich. Hier bleibt nichts übrig als: Verstehen, und das ist, um an dieser Stelle noch einmal Dilthey zu zitieren, der "Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen" (s.o.). Dieses Erkennen kann den Ansprüchen naturwissenschaftlicher Erkenntnis nicht genügen, weil es nicht empirisch überprüfbar ist – die Konstruktion des Innen eines Anderen ist eine Imagination, die sich nicht mit dem Innen dieses Anderen vergleichen lässt  –; und doch kann Verstehen wissenschaftlich sein: wenn es methodisch kontrolliert geschieht, auf objektiv gegebenen Daten basiert und im Ganzen nachvollziehbar, widerspruchsfrei und schlüssig ist. In diesem Sinne spricht meiner Meinung nach nichts dagegen, nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühlen einen Platz in der Hermeneutik einzuräumen

 

 5. Zur Soziologie der Emotionen

Dass Gefühle in der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik bislang keine Berücksichtigung fanden, liegt auch daran, dass sie in der Geschichte der Soziologie lange Zeit kaum eine Rolle spielten. Soziologisch irrelevant waren die Begriffe Gefühl, Affekt und Emotion gleichwohl nie.

 

Max Weber weist dem affektuellen Handeln den 3. Platz in seiner Typologie der Handlungsorientierungen zu – nach dem zweckrationalen und wertrationalen, aber noch vor dem traditionalen Handeln –, doch seiner Definition nach steht das "streng affektuelle Sichverhalten [...] an der Grenze und oft jenseits dessen, was bewusst 'sinnhaft' orientiert ist" (Weber 1980, S. 12). Zentral für Webers Bestimmung des Affektuellen ist zudem der Aspekt der aktuellen Bedürfnisbefriedigung als stimulusbedingtes Abreagieren. So verortet er das Affektuelle als Irrationales auf der Gegenseite des Rationalen. Von dort aus macht es, beispielhaft in Webers Protestantismusthese, dem Verstand die Hölle heiß; zugespitzt formuliert: Getrieben von der Angst vor der ewigen Verdammnis erarbeitet sich der Calvinist durch seinen in innerweltlicher Askese errungenen ökonomischen Erfolg das Signum seiner göttlicher Auserwähltheit mit rationalem Handeln. Auch in seinem Manuskript zur Musiksziologie beschreibt Weber das Verhältnis von leidenschaftlicher Irrationalität und kühler Rationalität als ein antagonistisches (vgl. Weber 2004). Eine ähnliche Differenzierung nimmt auch Norbert Elias vor, wenn er mit dem Prinzip der Affektkontrolle den Prozess der Zivilisation erklärt. Von hier ist es wiederum nicht weit zu Talcott Parsons pattern variables und seiner Unterscheidung zwischen einer affektiven und einer neutralen Handlungsorientierung, – wobei die letztere unschwer als typisch modern dechiffrierbar ist.

 

Durkheim und Simmel setzen in ihrer Auseinandersetzung mit dem Emotionalen anders an. Für Durkheim gehören Emotionen als Arten des Fühlens zu den Gegenständen soziologischen Denkens (vgl. Durkheim 1984, S. 107). Gefühle sind in diesem Sinne konstitutiv für die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Wenn sich Menschen mit den Moralvorstellungen eines Kollektivs identifizieren, wenn sie Solidarität empfinden oder wenn sie sich von Fremden fern halten: immer machen Gefühle einen Unterschied. Stimmungen, Gefühle und Atmosphären grundieren, was Menschen denken und was sie tun bzw. lassen. Simmel geht die Auseinandersetzung mit Gefühlen von seinem Begriff der Wechselwirkung an. Dabei unterscheidet er in seinen Studien über Phänomene wie Hass, Treue, Streit und Freundschaft zwischen Gefühlen, die konstitutiv für soziale Beziehungen sind (primäre Gefühle) und solchen Gefühlen, die in bzw. aus sozialen Beziehungen entstehen (sekundäre Gefühle) (vgl. Gerhards 1987, S. 43ff.).

 

Ansätze zu einer Soziologe der Emotionen gab es bei den Klassikern der Soziologie also durchaus. Gleichwohl ist festzuhalten, dass in der Soziologie insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Emotionale des Sozialen und das Soziale des Emotionalen keine relevanten Themen waren bzw. als Themen gar nicht in den Blick kommen konnten, weil dieser durch das Primat des Rationalen vollständig verstellt war. Das rationalistisch verengte Menschenbild der Soziologie – die Rational Choice Theorie kann hier als Beispiel dienen – ließ es lange Zeit nicht zu, auf das Soziale mit anderen Augen zu sehen. In der deutschen Soziologie setzte ein allmähliches Umdenken ein, als Jürgen Gerhards Ende der 80er das Buch Soziologie der Emotionen veröffentlichte. Dieser 'emotional turn' hat in Deutschland mittlerweile zur Etablierung einer Bindestrich-Soziologie namens Emotionssoziologie geführt (– vgl. hierzu den von Senge und Schützeichel 2013 herausgegebenen Sammelband Hauptwerke der Emotionssoziologie). 

 

Die sozialwissenschaftliche Hermeneutik hat diese Wende hin zum Emotionalen nicht mitvollzogen, – da stellt auch der 1999 von Hitzler, Reichertz und Schröer herausgegebene Band Hermeneutische Wisssenssoziologie keine Ausnahme dar. Eine 'Emotionalisierung' der Hermeneutik erscheint mir aber durchaus aussichtsreich. Dem Folgenden ist damit die Richtung gewiesen. Es zielt darauf, Gefühlen in der Hermeneutik einen Platz zu geben.

 

6. Gefühle lesen

Der Titel "Gefühle lesen" – so die deutsche Übersetzung des von Paul Ekman geschriebenen Buches "Emotions revealed. Understanding Faces and Feelings" (Ekman 2004) – scheint auf den ersten Blick einen viel versprechenden Anknüpfungspunkt für die Hermeneutik zu liefern; das Lesen ist ja schließlich so etwas wie eine hermeneutische Grundrechenart. Tatsächlich ist die Formulierung 'Gefühle lesen' aber nicht weiter-, sondern irreführend. Gefühle lassen sich genauso wenig lesen wie Gedanken. Lesen ist, wie jede Interpretation von Zeichen, ein auf Wahrnehmung und Sinngebung beruhender Deutungsakt. Und gedeutet werden kann nur das, was als Ausdruck inneren Denkens, Fühlens und Wollens gilt. 'Gefühle lesen' kann in diesem Sinne nur heißen:  'Gefühlsausdrücke verstehen' – und so ist es bei Ekman im Grunde auch gemeint.

 

Gesichtsausdrücke unter die Lupe nehmend, entwickelt Ekman ein Facial Action Coding System, das es ermöglichen soll, Gefühle vom Gesicht 'abzulesen'. Seine Suche nach einer universalen Gefühlsmimik (vgl. Ekman 2004, S. 9) ist indes keine hermeneutische. Ekman denkt naturwissenschaftlich, wenn er das Verhältnis von Mimik und Gefühl nach dem Muster von Wachs und Siegel begreift. Hermeneutisch betrachtet ist das Verhältnis von Ausdruck und Gefühl bzw. Körper und Seele eine offene Zweierbeziehung: nichts muss, alles kann ausgedrückt werden, auch das, was im Innen gar nicht gegeben ist. Menschen sind Meister des Impression Managements und gestalten ihren Ausdruck vom erwarteten Eindruck her; im Sozialen ist das Als-ob geradezu ihr (Über-)Lebenselexier.

 

Menschen, die Menschen lesen wollen, wollen am Detail erforschen, ob die sogenannte Schamesröte Scham verrät, ob Tränen lügen oder ob ein authentisch wirkendes Lachen nicht doch unecht ist. Hermeneuten denken da eher ganzheitlich. Den menschlichen Körper als Ausdrucksfeld bzw. Ausdrucksfläche auffassend, suchen sie – mit der Annahme, dass Rückschlüsse von Außen nach Innen möglich sind – das sinnlich Gegebene nach Zeichen für Gefühle ab. Insofern sind Körperhaltung, Gestik, Gesichtsausdruck und Stimmlage durchaus interessante Indikatoren für Interpretationen, die darauf zielen, Menschen Gefühle zuzuschreiben. Das Spektrum dieses Interpretierens reicht vom aktuellen Verstehen eines Zornausbruchs, "der sich in Gesichtsausdruck, Interjektionen, irrationalen Bewegungen manifestiert (irrationales aktuelles Verstehen von Affekten)" (Weber 1980, S. 3f.) bis hin zum erklärenden Verstehen, wenn besagter Zornausbruch motivationsmäßig auf einen Beweggrund zurückgeführt werden kann, also in einen Sinnzusammenhang integrierbar ist (vgl. ebd. S. 4). Das erklärende Verstehen menschlicher Gefühlsausdrücke beruht auf dem quid pro quo der hermeneutischen Innen-Außen-Relation: Etwas (nach innen zusammengezogene Augenbrauen, aufeinander gepresste Lippen, gerötete Gesichtshaut) wird als etwas aufgefasst (Zeichen des Zorns), das für etwas anderes steht (Zorn), das im Zusammenhang mit anderen Elementen des inneren Erlebens eines Anderen als integraler Bestandteil eines sinnhaften Ganzen gedeutet wird (beispielsweise Zorn als Reaktion auf enttäuschtes Vertrauen).

 

Im Rahmen dieses Schemas ist das Verstehen von Gefühlsausdrücken ein durch und durch kognitiver Akt, in dem ein Subjekt ein Objekt als Subjekt auffasst, das innere Gefühle körperlich zum Ausdruck bringt. Dieses Deuten setzt voraus, dass der Verstehende dem zu Verstehenden unterstellt, ein anderes Ich zu sein: ein Du, dessen Innen dem Ich nicht zugänglich ist. Ausgehend von dieser Ich-Du-Differenz wird dann per Analogieschluss oder, wie in der Phänomenologie Husserls, durch eine (die Subjektivität des Anderen mitvergegenwärtigende) Appräsention (vgl. hierzu Husserls Werke Zur Phänomenologie der Intersubjektivität und Kurt 2002, S. 91ff.) die black box des Du mit Vorstellungen ausgefüllt, die das Ich von sich aus in das Du hineinprojiziert. Das Verstehen von Gefühlsausdrücken ist dann ein hypothetisches Sichhineindenken in ein anderes Ich, das darauf zielt, sich über die Erinnerung an selbst erlebte Gefühle vorstellen zu können, was dieser Andere fühlt und warum er dieses Fühlen so und nicht anders zum Ausdruck bringt. Über ein Vorstellen der Gefühle Anderer kann dieses Verstehen nicht hinaus. Die Hermeneutik des Gefühlsausdrucks endet hier. Man kann sich zwar vorstellen, was andere fühlen (– ohne wissen zu können, ob die Vorstellung zutreffend ist), man kann aber nicht die Gefühle Anderer fühlen.

 

Die Grenze zwischen Ich und Du schiebt dem Ein- bzw. Hineinfühlen einen Riegel vor. Der bereits von Herder beiläufig verwendete Begriff der Einfühlung war insbesondere durch die Arbeiten von Theodor Lipps um 1900 zur wissenschaftlichen Kategorie aufgestiegen. (Nach der Rückübersetzung aus dem Englischen (empathy) hat sich im deutschsprachigen Raum mittlerweile der Ausdruck Empathie etabliert; nicht ohne weitreichende Bedeutungsverschiebungen: Mit Empathie wird zunehmend eine Haltung der Feinfühligkeit und Zugewandtheit gemeint, der nicht selten sogar der Rang eines Kulturwerts zugesprochen wird.) Seinem guten Ruf zum Trotz ist Einfühlung jedoch ein Begriff, der nicht hält, was er verspricht. Er suggeriert eine Grenzüberschreitung, die nicht möglich ist, wenn angenommen wird, dass die Gedanken und Gefühle eines Ich exklusiv die seinen sind und ein anderes Ich nur mittelbar über Körperwahrnehmungen erschließbar ist. Das Du ist so gesehen immer ein Du im Ich, eine Konstruktion, die auf projektiven Transpositionen des Ich beruht: nicht nur kognitiv als ein 'Ablesen' von Gefühlen entlang oberflächlicher Gefühlsausdrücke, sondern auch emotional als ein Übertragen eigener Gefühle auf andere. Dabei führt die Unterstellung, dass der andere das fühlt, was ich fühle, nicht aus dem Ich heraus, sondern in dieses hinein, weil hier in einer innenweltlichen Binnendifferenzierung eigene Gefühle als die Gefühle anderer deklariert und mit dem Index Du versehen werden.

 

Die Aporien der Einfühlungs- und Analogieschlusstheorien sind wohl bekannt (vgl. z. B. Plessner 1975, S. 300f.) und ihre Grenzen im Hinblick auf das Verstehen von Gefühlsausdrücken offensichtlich. Während sich das Denken Anderer in Gedanken über das (in Zeichen zum Ausdruck gebrachte) Gedachte näherungsweise nachvollziehen (und durch die Konstruktion idealtypischer Gedankenbilder modellförmig verdichten) lässt, findet das Fühlen Anderer in der hermeneutischen Deutung kein Äquivalent. Um mehr über die Relevanz der Emotionen für das Soziale, mehr über die Wirkkraft von Affekten, Stimmungen und Wertgefühlen, mehr über die Bedeutung sozialer Atmosphären zu erfahren, bedarf es eines anderen Ansatzes.

 

Vielleicht hilft es an dieser Stelle ja weiter, nicht auf Gedanken, sondern auf Gefühle zu setzen. Vielleicht ist es ja möglich, Gefühle als Mittel der Erkenntnis einzusetzen.

 

Hier lässt sich an Max Scheler anknüpfen. In seinem nunmehr über 100 Jahre alten Buch Wesen und Formen der Sympathie hat er, programmatisch formuliert, die Gefühle von den Gedanken emanzipiert. In seinen in der Soziologie bis heute wenig beachteten Reflexionen auf das Mit-, Ein-, Nach- und Einsfühlen hat Max Scheler interessante Anschlussmöglichkeiten für die Bildung einer Theorie des Verstehens von bzw. mit Gefühlen bereit gestellt.

 

7. "Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt" (Pascal)

Logik, Ordnung und Rationalität sind Domänen der Vernunft. Das Andere der Vernunft, die Sinnlichkeit, wird semantisch hingegen traditionell mit Irrationalität gepaart. Gegen diese tief in der antiken Philosophie verwurzelte Dichotomisierung von Vernunft und Sinnlichkeit behauptet Scheler im Rückgriff auf Pascals Formel von der "logique du coeur" bzw. "ordre du coeur" (Scheler 1954, S. 268), dass das Fühlen eine Erfahrungsart ist, die ihre eigene Logik hat und die nicht, wie etwa bei Leibniz, als dunkles oder verworrenes Denken der Sphäre der Vernunft als minderwertige rationale Erkenntnis zugeordnet werden kann. Die Unreduzierbarkeit des emotionalen Lebens betonend, geht Scheler davon aus, dass sich in Gefühlen der Lust und Unlust, der Anziehung und Abstoßung, im Vorziehen und Nachsetzen, in Wertbindungen und im Lieben und Hassen Welt erschließt (vgl. Scheler 1954, S. 274).

 

Für Scheler sind Gefühle  – er unterscheidet zwischen sinnlichen (z.B. Zahnschmerzen), seelischen (z. B. Scham) und geistigen (z.B. 'wertvolle' Liebe) – die treibende Kraft im Seelenleben. Der Geist selbst ist kraftlos; Energie kommt ihm allein durch den Gefühlsdrang zu. In seiner die philosophische Anthropologie fundierenden Schrift "Die Stellung des Menschen im Kosmos" (1928) fasst Scheler den Gefühlsdrang metaphorisch als "Dampf, der bis in die lichtesten Höhen geistiger Tätigkeit alles treibt, auch noch den reinsten Denkakten und zartesten Akten lichter Güte die Tätigkeitsenergie liefert" (Scheler 1947, S. 12). Überall sind Gefühle am Werk, auch im Sozialen. Ausgehend vom Phänomen des Mitgefühls hat Scheler in "Wesen und Formen der Sympathie" (1913) die "Sinngesetze des emotionalen Lebens" (Scheler 1948, S. IX) untersucht.

 

Ausgangspunkt seiner Argumentation ist eine Kritik an den Theorien, die die Du-Erfahrung vom Ich her als Transposition bzw. Projektion erklären. Scheler zeigt im Kapitel "Vom fremden Ich", dass die Lehre vom Analogieschluss und die Einfühlungstheorie die Erfahrung eines anderen Menschen als fremdes Ich nicht erklären können. Die Annahmen, dass "uns 'zunächst' immer nur das eigene Ich 'gegeben' ist", dass "uns von einem anderen Menschen 'zunächst'" [...] "allein die Erscheinung seines Körpers" gegeben ist und dass es dann durch ein Hineindenken bzw. Hineinfühlen des Ichs in den eben noch seelenlosen Körper "zur Annahme der Existenz des fremden Ich" (Scheler 1948, S. 263) kommt, weist Scheler sämtlich als falsch zurück. Zunächst gegeben ist nicht das Ich (als ein Cartesianisches denkend Ding, das sich qua Vernunft die Welt erschließt), sondern dies, "daß wir sowohl unsere 'Gedanken' als die 'Gedanken' Anderer denken, unsere Gefühle wie die Anderer (im Mitfühlen) fühlen können" (ebd. 264). Zunächst gegeben ist auch nicht die Erscheinung eines Körpers als seelenloser Gegenstand, sondern die unmittelbare Erfahrung des Anderen in Ausdrucksphänomenen: "wir nehmen die Scham im Erröten wahr, im Lachen die Freude. Die Rede, es sei uns 'zunächst nur ein Körper gegeben', ist völlig irrig" (ebd. S. 6). "So sehe ich z.B. nicht nur die 'Augen' eines Anderen, sondern auch, 'daß er mich ansieht'" (ebd. S. 283). Darüber hinaus kommt der Analogieschluss nicht über eine Verdoppelung des eigenen Ich hinaus. Das in den anderen menschlichen Körper transponierte Ich verwandelt sich im Prozess der Projektion ja nicht in ein fremdes Ich; es bleibt was es war: das eigene Ich (vgl. ebd. S. 259). Deshalb kann der Analogieschluss die Erfahrung fremder Iche nicht erklären; er setzt sie immer schon zirkulär voraus (vgl. Schloßberger 2013, 2005). Das gilt auch für die Einfühlungstheorie, der Scheler zudem noch attestiert, nur "ein blinder 'Glaube'" (ebd.) zu sein. "Denn daß nun der Prozeß der Einfühlung mit wirklicher Beseelung der Körper, in die wir 'einfühlen', zusammenträfe, das wäre hier ein purer 'Zufall'" (ebd.).

 

Scheler antwortet auf das Problem, dass sich die vom Gegebensein des Ich ausgehenden Theorien des Fremdverstehens in Aporien verfangen, indem er mit seiner Erklärung der Erfahrung fremder Iche unterhalb der Sphäre des bewussten Unterscheidens zwischen Ich und Du ansetzt. Er denkt hier an Fälle, in denen "ein Erlebnis einfach 'gegeben' ist, ohne noch sei es als eigenes oder fremdes gegeben zu sein" (ebd. S. 265). Mit diesem Gedanken bricht Scheler der abendländischen Ego-Zentrik die Spitze ab. Und er legt den Blick frei für das, was seiner Meinung nach dem Ich zugrunde liegt: kein Wesenskern, keine Urvernunft, kein in der Tiefe der Seele brodelndes Es, sondern ein Erleben, in dem zwischen Ich und Du (noch) nicht unterschieden ist. Wenn man von der Atmosphäre einer sozialen Situation 'angesteckt' bzw. unwillkürlich in sie "mithineingerissen" wird (ebd. S. 11) – zum Beispiel im Museum, im Fußballstadion, auf einer Party ... oder konkreter: in Auschwitz, beim public viewing des WM-Endspiels 2014, Silvester um kurz vor 12 –, dann kann das Erleben mitunter völlig ich- und dulos sein. So auch in der 'Einsfühlung' mit anderen, also etwa beim gemeinsamen musizieren, bei der totalen Identifikation mit einem anderen Menschen oder im "liebeerfüllten Geschlechtsakt", in dem zwei Menschen "unter rauschartiger Ausschaltung des geistigen Personseins (an dem ja wohl das eigentliche individuelle Ichsein haftet) in einen Lebensstrom, der keines der individuellen Iche gesondert in sich enthält, der aber ebensowenig ein sich auf die beiderseitige Ichgegebenheit aufbauendes Wir-bewußtsein darstellt, zurückzutauchen meinen" (ebd. S. 23f.). Dass Scheler hier auf außeralltägliche Erlebnisse rekurriert, heißt nicht, dass ich-du-indifferentes Erleben im Alltag nicht vorkommen würde. Im Gegenteil: Beim Eintauchen in die soziale Atmosphäre auf dem Arbeitsplatz, beim nichtbewussten 'Verstehen' mimisch-gestischer Ausdrucksformen beim Bewerbungsgespräch, beim freundlichen Smalltalk in der Stammkneipe oder beim Erleben des Ärgers anderer beim Schlange-Stehen im Supermarkt: hier wie da fühlen wir mit anderen ohne den anderen als anderen wahrzunehmen. Echtes Mitfühlen findet nach Scheler eben nicht im Modus des Mit statt, weil dies ja immer schon eine Ich-Du-Differenzierung voraussetzen würde. Mit der in der Phänomenologie gängigen Metapher des Stroms plausibilisiert Scheler seine Hypothese vom ich-du-indifferenten Erleben im folgenden Zitat:

 

"Nicht so also verhält es sich, daß wir [...] aus einem zunächst gegebenen Material unserer Eigenerlebnisse uns Bilder der fremden Erlebnisse aufzubauen hätten, um diese Erlebnisse –  die uns niemals unmittelbar als 'fremde' aufzuweisen wären  dann in die körperlichen Erscheinungen der Anderen einzulegen; sondern ein in Hinsicht auf Ich-Du indifferenter Strom der Erlebnisse fließt 'zunächst' dahin, der faktisch Eigenes und Fremdes ungeschieden ineinandergemischt enthält; und in diesem Strome bilden sich erst allmählich fester gestaltete Wirbel, die langsam immer neue Elemente des Stromes in ihre Kreise ziehen und in diesem Prozesse sukzessive und sehr allmählich verschiedenen Individuen zugeordnet werden." (ebd. S. 265f.)

 

Die sozialisationstheoretischen Implikationen dieses Ansatzes sind evident. Bevor das Kind Ich zu sich sagt und denkend zwischen sich selbst und anderen zu unterscheiden lernt, ist sein Erleben schon ein soziales; "alles Gegebene ist ihm ein großes Ausdrucksfeld" (ebd. S. 234) und vermittels dieser Offenheit für anderes bettet die Gemeinschaft das Kind in fremde Gedanken und Gefühle ein. "Eingeschmolzen in den 'familiären Geist', verbirgt sich ihm sein Eigenleben zunächst fast völlig" (ebd. S. 266). "Erst sehr langsam erhebt es [...] sein eigenes geistiges Haupt aus diesem über es hinbrausenden Strome und findet sich als ein Wesen vor, das auch zuweilen eigene Gefühle, Ideen und Strebungen hat " (ebd.). "Das heißt: 'Zunächst lebt der Mensch mehr in den Anderen als in sich selbst" (ebd.).

 

Aus Schelers Sicht, aber das nur nebenbei, setzt die Diskussion um Empathie am falschen Ende an. Der Mensch muss das Mitfühlen nicht erst mühsam erlernen; er muss es gezielt verlernen, um sich von den Gefühlen anderer distanzieren zu können. "'Lernen' ist in diesem Sinne zunehmende Ent-seelung  nicht aber Be-seelung" (ebd. S. 257f.). Erst der Erwachsene schafft es, Bilder leidender Menschen ungerührt im Fernsehen anzuschauen,  und doch wagen es wohl nur die wenigsten, einem Bettler geradewegs in die Augen zu sehen.

 

 8. "Willst du die anderen verstehen, blick in dein eigenes Herz" (Schiller)

 Welche Implikationen könnte Schelers Konzept vom unmittelbaren Erleben Anderer im Modus der Ich-Du-Indifferenz für die sozialwissenschaftliche Hermeneutik haben?

 

Zunächst: Das klassische Verständnis wissenschaftlichen Verstehens als Sinn rekonstruierender Interpretation objektiv gegebener Lebensäußerungen bleibt von Schelers Ansatz unberührt. Nicht nach der Leistungsfähigkeit reflexiver Verstehensarbeit ist hier zu fragen, sondern nach den Potentialen nichtreflexiven Miterlebens.

 

Was ist möglich, wenn man die Instrumente des erklärenden Verstehens beiseite ließe und sich ganz auf das aktuelle Verstehen konzentrierte? Und zwar auf die Momente aktuellen Verstehens, in denen im Erleben nicht zwischen Ich und Du unterschieden wird. An die Stelle des bewussten Sichhineinversetzens und der für das erklärende Verstehen notwendigen Distanz rückte dann Indifferenz (– nicht Nähe, denn dieser ist noch die Differenz von Ich und Du inhärent).  

 

Für die Praxis der qualitativen Sozialforschung, insbesondere für das aktuelle Verstehen in der ethnografischen Feldarbeit, hätte das erhebliche Konsequenzen, weil ich-du-indifferentes Erleben nur dann möglich ist, wenn das denkende Ich im Off bleibt und das Erkennen (temporär) dem ichlosen Erleben überlassen bleibt. So förderlich das rationale, ichzentrierte Denken zweifellos für das Forschen ist, mitunter ist es auch hinderlich. Ohne am Thron des Ich als Souverän der Sinnwelt Wissenschaft zu rütteln, ließe sich hier durchaus die Frage stellen, ob wir zumindest in Momenten aktuellen Verstehens ohne das selbstbewusst reflektierende Ich nicht weiter kämen als mit ihm. Forschungspraktisch ermöglichte dies ein  Sowohl-als-auch: "zeitweilig sich dem Leben überlassen, um hernach zeitweilig über ihm mit dem Auge zu ruhen" (Nietzsche 2000, S. 316)

 

Für die ethnografische Aufgabe des Beobachtens hieße es dann nicht, im Feld die eigene Subjektivität und Situiertheit methodisch kontrolliert zur Wahrnehmung und Deutung des Verhaltens anderer einsetzen, sondern: mitdasein und miterleben, was geschieht, ohne sich dem 'mit' bewusst zu sein, also ohne das Ich zum Referenz- und das Du zum Kontrapunkt des Erlebens zu erheben. Idealerweise bedeutete das: dem unmittelbaren Erleben Anderer freien Lauf lassen, eintauchen in die Atmosphäre einer sozialen Situation, sich anstecken lassen von den Stimmungen anderer, für Einsfühlungen mit anderen offen sein und stets bereit zu sein mitzugehen, mitzumachen und mitzuspielen.

 

Die Gefühle (und Gedanken), die im Rahmen dieser Art zu erleben entstehen, sind mitunter sehr aufschlussreich. Man erfährt am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, in einer bestimmten sozialen Situation zu sein; man spürt, was wichtig und weniger wichtig ist und man macht sich Gedanken, die sich die anderen  weil sie in derselben Situation sind  wahrscheinlich auch machen. Auf diesen Aspekt ethnografischen Sich-Einlassens, Mit-Machens und Mit-Reagierens hat bereits Goffman in seinen Ausführungen über die Technik der teilnehmenden Beobachtung hingewiesen. "Die Technik besteht meines Erachtens darin, Daten zu erheben, indem man sich selbst, seinen eigenen Körper, seine eigene Persönlichkeit und seine eigene soziale Situation den unvorhersehbaren Einflüssen aussetzt, die sich ergeben, wenn man sich unter eine Reihe von Leuten begibt, ihre Kreise betritt, in denen sie auf ihre soziale Lage, ihre Arbeitssituation, ihre ethnische Stellung oder was auch immer reagieren. Daß man also in ihrer Nähe ist, während sie auf das reagieren, was das Leben ihnen zumutet" (Goffman 1996, S. 263). Goffman spielt hier einerseits auf den bewussten Ich-Akt des aufmerksamen Registrierens der Lebensäußerungen anderer an. Andererseits deutet er an, dass der eigene Körper nicht nur ein Instrument der Beobachtung, sondern auch ein Quell der Erkenntnis ist. Goffman spricht an dieser Stelle von einem "tuned-up body" (Goffman 1989, S. 125), also einem Körper, der  um die Musikmetapher weiter zu führen  in der Stimmung des Feldes schwingt. So kann der Körper ein Seismograph sozialer Atmosphäre sein. Prosaischer formuliert: "Und weil Sie im selben Schlamassel wie die anderen stecken, werden Sie auch einfühlsam genug sein, das zu erspüren, worauf sie reagieren" (Goffman 1996, S. 263, im Original: "you´re empathetic enough  because you´ve been taking the same crap they´ve been taking  to sense what it is that they´re responding to" (Goffman 1989, S. 125f.)

 

Das (aktive) Sich-Einstimmen bzw. (passive) Eingestimmt-Werden auf das Feld setzt voraus, dass im Selbstverhältnis des Ethnografen der Akzent nicht auf dem (bewussten) 'Körper haben', sondern auf dem (ich-du-indifferenten) 'Leib sein' liegt (vgl. Plessner 1975). (An diesem Punkt lassen sich Plessners Unterscheidung zwischen Leib sein und Körper haben und Schelers Konzeption vom ich-du-indifferenten Erleben meiner Meinung nach gut zusammenführen.)

 

In meiner eigenen ethnografischen Beobachtungs- und Verstehensarbeit habe ich meinen Körper bislang ganz bewusst als Registriermaschine eingesetzt  und folgte damit, so gut es eben ging, den Geboten der qualitativen Sozialforschung. Dennoch, so möchte ich rückblickend behaupten, habe ich die entscheidenden Impulse für das Verstehen fremder Lebenswelten Momenten des ich-du-indifferenten Erlebens zu verdanken. Ob beim gemeinsamen Warten an einem Filmset (und dem mitgefühlten Spannungsanstieg, wenn der Regisseur sein "Alles auf Anfang" sagt) (vgl. Kurt 2002), beim Improvisationstheatertraining mit Schülern im Rahmen des Forschungsprojekts "Interkulturelles Verstehen in Schulen des Ruhrgebiets" (vgl. Kurt / Pahl 2016) oder in der Rolle des Schülers beim Erlernen klassischer indischer Musik (vgl. Kurt 2009): immer waren es vor allem Gefühle, die mir dabei halfen, dem Fremden hermeneutisch auf die Spur zu kommen.

 

Sicher, Gefühle sind keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, aber sie können in der Forschung Wegweiser sein. Nicht in dem Sinne, dass Sozialforscher einfach nur ihrem Bauchgefühl folgen sollten. Es geht vielmehr darum, das Fühlen als Mittel der Erkenntnis zuzulassen und die eigenen Gefühle, insbesondere die ich-du-indifferenten, als Daten in den Forschungsprozess miteinzubeziehen. Das kann in Form einer autoethnografischen Rückwendung auf das im Feld Erlebte geschehen,  natürlich nicht Jahre später, sondern dann, wenn die Erinnerung an das Erlebte noch frisch ist. Diese Objektivierung des Subjektiven ist hermeneutisch nötig, um der Reflexion auf das eigene Seelenleben eine empirische Basis zu geben. Der Fluchtpunkt dieser Reflexion ist indes nicht das Eigene, sondern das Verstehen Anderer. Hermeneutisch gesprochen geht es hier um die Auslegung des Fühlens auf Fremdes hin. Mit Schiller gesagt: "Willst du die anderen verstehen, blick in dein eigenes Herz" (Schiller in Scheler 1948, S. 270).

 

Das ist keine Aufforderung zum unwissenschaftlichen Arbeiten, sondern eine Maxime für hermeneutische Gefühlsarbeit.

 

 “'Das Leben ein Mittel der Erkenntnis' – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen.” (Nietzsche 2000, S. 213, 3. Buch 324)

 

 

 

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[1] Eine stark gekürzte Version dieses Textes ist erschienen in: Ronald Hitzler, Jo Reichertz, Norbert Schröer (2019) (Hg.): Kritik der Hermeneutischen Wissenssoziologie. Weinheim und Basel: Beltz/Juventa.