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Vergleichen - Kulturen vergleichen - Indien und Europa vergleichen

Ronald Kurt

 

 

1. Der Mensch als vergleichendes Lebewesen

 

Das Vergleichen beinhaltet zwei Operationen: erstens ein Nebeneinanderstellen von Verschiedenem und zweitens ein kriterienorientiertes Aufeinanderbeziehen. Wer vergleicht, braucht also nicht nur Vergleichsobjekte, sondern auch ein Vergleichskriterium: ein tertium comparationis, ein gemeinsames Allgemeines, das im Vergleich als Referenzpunkt fungiert. Das gemeinsame Dritte gibt dem Vergleich sein Woraufhin. Erst die Ansetzung eines Vergleichspunktes macht es möglich, etwas in Relation zu etwas anderem als gleich, ähnlich oder verschieden zu bezeichnen.[1] Im Vergleichen spannt sich das Denken zwischen Gleichheitsunterstellung  (A = B) und Differenzsetzung (A ≠ B) einen weiten Horizont des Betrachtens auf. Er reicht vom "Pol der Identität" zu "dem der Inkommensurabilität" (Zima 2011: 75).

 

A und B über einen Vergleichspunkt im Hinblick auf ihr Gleich- bzw. Verschiedensein nebeneinanderzustellen, ist kein Vorrecht des Wissenschaftlers. Vergleichen kann, und muss, jeder. Es ist eine Form des Denkens, die dem Menschen in seinem Verhältnis zur Welt und zu sich selbst Orientierung gibt. Im Alltag ist das Vergleichen so selbstverständlich – wer ist im Vergleich mit wem schöner, jünger, reicher, klüger? – , dass der Vergleichende in der Regel gar nicht merkt, dass er vergleicht (vgl. Stoellger 2011: 322). Es geschieht einfach – doch das, was da geschieht, ist höchst komplex.

 

1.1 Beziehendes Betrachten

Edmund Husserl hat dieses Phänomen genauer, das heißt: phänomenologisch, bedacht. Husserl beschreibt in Erfahrung und Urteil, dass und wie wir bereits beim Wahrnehmen ´beziehend betrachten` (Husserl 1972: 171). Wenn in der Wahrnehmung eines Gegenstandes das im Wahrnehmungsfeld Miterscheinende erfasst wird, dann kann dies unwillkürlich eine beziehende Betrachtung auslösen: Der Blick schweift vom Gartenhaus auf das daneben stehende Hochhaus und gleichsam wie von selbst wird das in der Einheit einer Anschauung im Bewusstsein mitgesehene Gartenhaus als kleines Haus erfahren.[2] Im Bewusstsein wird das Betrachtete in einer passiven Synthesis, also ohne ein aktives Hinzutun des Ich, aufeinander bezogen und dann zeigt sich (in einer Konvergenz-Evidenz), was gleich ist – beides sind Häuser – und (in einer Divergenz-Evidenz) was verschieden ist – die Höhe der Häuser. "Es ´deckt` sich das Gemeinsame, es scheidet sich das Differente" (Husserl 1972: 224). Gleich zu gleich gesellt sich gern? Gegensätze stoßen sich ab? Das klingt so, als ob das Sich-Decken bzw. das Sich-Scheiden von den Wahrnehmungsgegenständen selbst ausginge – ohne ein tertium comparationis.  Das ist nicht nur animistisch gedacht (vgl. Stoellger 2011: 334), es widerspricht auch der Logik des Vergleichs. Es muss ein Drittes geben, über das ein Erstes auf ein Zweites bezogen wird. Für das beziehende Betrachten als einer passiven Bewusstseinsleistung könnte es kennzeichnend sein, dass hier das Dritte nichtbewusst aus dem Ersten oder Zweiten abgeleitet wird.[3] Wie in jedem Relationierungsakt, so kann es auch beim beziehenden Betrachten der Fall sein, dass sich der nicht bewusst Vergleichende im Vergleichen von einem Vergleichskriterium leiten lässt, welches in vergleichbaren Situationen bereits erfolgreich angewandt wurde und das sich nun angesichts bereits bekannter, typisch aufgefasster Gegenstände (vgl. Husserl 1972: 114) als bewährte Routine gleichsam selbst weckt und selektiert.

 

 1.2 Bewusst Vergleichen

 Zum bewussten Vergleichen "als aktiv beziehendes Betrachten, aktives Hin- und Herlaufen des erfassenden Blickes zwischen den Bezogenen" (Husserl 1972: 224) kommt es erst dann, wenn "wir die Intention auf eine Gleichheit oder Ähnlichkeit haben, bezw. die Intention darauf, ein Gemeinsames zu ´suchen`" (Husserl 1972: 226), wenn wir im bewussten Nebeneinander-, Gegeneinander- und Übereinanderhalten von mindestens zwei Entitäten Gemeinsamkeitsannahmen herstellen bzw. überprüfen. Im Vergleich wird nebeneinander oder unmittelbar nacheinander Wahrgenommenes aufmerksam auf Gleichheit, Ähnlichkeit und Ungleichheit geprüft.[4] Ausgehend vom Fall der Wahrnehmung beschreibt Husserl weitere Formen des Vergleichs; zunächst diejenige, in der Wahrgenommenes und Erinnertes in der Einheit einer Anschauung aufeinander bezogen werden. So könnte der Blick auf das Gartenhaus die Erinnerung daran wecken, wie das Haus aussah, bevor das Dach rot angestrichen wurde. "Der betrachtende Blick kann zwischem dem Selbstgegebenem und dem Vergegenwärtigten hin und her laufen" (Husserl 1972: 172) – und schon ist ein Früher-Heute-Vergleich in Gang gesetzt. Das Erinnern kann auch andere, vor kurzem oder vor längerer Zeit einmal gesehene Gartenhäuser in den Vergleich einspielen. Neben wahrgenommenen und erinnerten könnten auch phantasierte Gartenhäuser Vergleichsobjekte sein, – solange sie in einem Bewusstseinsjetzt als kopräsent erfahren werden. Die Einheit der Anschauung bildet "das Fundament für alle Gleichheits- und Ähnlichkeitsbeziehungen, die somit keine Beziehungen der Wirklichkeit sind" (Husserl 1972: 215), sondern Relationierungsleistungen wirklichkeitskonstituierender Subjektivität.

 

1.3 Richtendes Vergleichen

Eine weitere (von Husserl nicht thematisierte) Form des Vergleichs besteht darin, konkrete Gegenstände der Wahrnehmung auf abstrakte Idealvorstellungen zu beziehen, also: dem realen Gartenhaus im Bewusstsein ein ideales zur Seite stellen, um dann zu beurteilen, ob bzw. inwieweit die Wirklichkeit dem Ideal entspricht. Hier fungiert das Ideal in Form eines Musters als Bewertungsmaßstab für den Vergleich. Bei der Prüfung des Seins an einem Sollen macht der Mensch auch vor sich selbst nicht halt: "er (der mensch) hat ein original in seiner idee, mit dem er sich vergleicht" (Kant in Grimm 1956: 457). Die Tendenz, Objekte mit ihrer Idee zu vergleichen, nennt Schleiermacher "Gericht" (Schleiermacher 1995: 241). Das eigentlich Vergleichende besteht für ihn aber darin, "Einzelnes in Beziehung auf anderes Einzelnes zu betrachten" (ebd.). In einer analytischen Differenzierung ließe sich das bis hierhin Gesagte auf zwei Begriffe bringen: richtendes Vergleichen und betrachtendes Vergleichen (vgl. Stoellger 2011: 342, Haupt 2011: 8). Das erstere ist bewertend und bemisst das konkrete Sein an einem idealen Sollen; das zweite ist nicht bewertend und bezieht Einzelnes auf anderes Einzelnes.

 

1.4 Don´t Compare!

"Schön / Und lieblich ist es zu vergleichen", meint der Dichter Hölderlin (zitiert in Mauz/ von Sass 2011: 20). Der Dichter Handke widerspricht: Das Vergleichen ist ein Elend und es "kommt da her, daß man glaubt, überhaupt vergleichen zu müssen" (Handke 1975: 65). Dieser Glaube bedinge, so Handke, dass die Wahrnehmung sofort ins Vergleichen ausrutscht und die Einzelheiten eines Gegenstandes nicht mehr angemessen wahrgenommen werden können. Anstatt sich mit dem Gegenstand als solchem zu beschäftigen, spielt der dem Vergleich Verfallene die Gegenstände gegeneinander aus. Er misst, bewertet, hierarchisiert – und macht sich damit blind für das Besondere. Vergleiche dienen dazu, "den verglichenen Gegenstand mit einem Satz wegzureden: jede weitere Beschäftigung mit ihm erübrigt sich" (ebd.: 66). Auch bzw. gerade das Unverständliche und Fremdartige kann mit Hilfe des Vergleichs "unverdient vertraut" werden (ebd.: 67). In Handkes Kritik am Vergleich spricht sich nicht nur eine hohe Wertschätzung des Besonderen aus, sondern auch eine hohe Wertschätzung der Fähigkeit, Singuläres achtsam wahrzunehmen. Von hier aus ist es nicht weit zu der Position, die mit dem Argument der Inkommensurabilität gegen den Vergleich opponiert. Das historisch mit nichts zu Vergleichende – der Holocaust –, das schlechthin Undenkbare – Gott – und das Genial-Originelle – Goethes Faust – gelten als unvergleichlich; entweder weil es historisch (Holocaust), theologisch (Gott) oder künstlerisch (Goethes Faust) nichts gibt, was dem Unvergleichlichen gleicht, oder weil ein Vergleich die Einzigartigkeit des Unvergleichlichen bedroht (– z.B. dann, wenn der Holocaust durch den Vergleich mit anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vergewöhnlicht werden würde und damit seiner moralischen Strahlkraft verlustig ginge) (vgl. von Saas 2011: 44f.). In der pathetischen Glorifizierung des Einzigartigen (wie im Geniekult des 18./19. Jahrhunderts, der romantischen Liebessemantik – "Nothing compares to you" – und dem ´Kult des Individuums` (Durkheim) im 20./21. Jahrhundert) manifestiert sich eine starke Sensibilität für Differenzen, die, im extremsten Fall, wenn in radikal-dekonstuktivistischer Differenzorientierung alles für einzigartig erklärt wird, jede Art des Vergleichs als Akt der Gleichmacherei verurteilen muss. Das Gegenextrem zu dieser Haltung bildet die Auffassung, dass alles von Menschen Denk- und Wahrnehmbare über Begriffe (Rose, Katze, Mensch), Universalien (Kultur, Macht, Zeit) und allgemeine Maßeinheiten (Zentimeter, Alter, Einkommen) miteinander verglichen werden kann.

 

Sicherlich wäre es ohne das Übersehen des Individuellen und die Gleichsetzung des Nichtgleichen nicht möglich, Begriffe zu bilden und Einzelnes als Allgemeines aufzufassen.[5] Andererseits ist es aber wohl auch nicht möglich, singulär Gegebenes in seine (im Prinzip unendlich vielen) individuellen Bestandteile zu zerlegen und eins zu eins in Allgemeines zu übersetzen bzw. jenes aus diesem abzuleiten. Das Vergleichen ist eine Denkform, die Einzelnes mit anderem Einzelnen über ein Allgemeines in ein Verhältnis setzt – ohne die Spannung zwischen Einzelnem und Allgemeinem dabei aufzulösen. Die Entscheidung, was warum auf was hin wie miteinander verglichen wird, liegt beim Vergleichenden. Vergleichbarkeit ist kein Merkmal von Objekten, sondern eine Annahme von Subjekten. Im Prinzip kann alles mit allem verglichen werden: Äpfel mit Birnen, Farben mit Tönen und: Indien mit Europa. Die Frage ist nicht, was vergleichbar ist, sondern zu welchen Erkenntnissen ein Vergleich führen kann.

 

1.5 Der Vergleich als Methode der Naturwissenschaften

Das Vergleichen ist eine Art des Denkens, die im Alltag für gewöhnlich wie von selbst geschieht - ohne dabei als Denkart bedacht geschweige denn bewusst kontrolliert zu werden. In den Wissenschaften hingegen muss das Vergleichen bewusst und kontrolliert geschehen; sonst würde es dort nicht als Methode gelten können. Wissenschaftliche Methoden sind regelbasierte, theoretisch begründete und Nachvollziehbarkeit gewährleistende Verfahren der Wissensproduktion und -überprüfung. Kann das Vergleichen in diesem Sinne ein methodisch kontrollierter Weg zum Wissen sein? Aus Sicht der Naturwissenschaften lässt sich diese Frage mit ´Ja` beantworten. Seit Galilei (1564-1642) der Idee des Experiments und dem Ideal mathematischer Exaktheit folgend, haben sich in den modernen Naturwissenschaften Maßeinheiten und Messverfahren etabliert, die dem Vergleich einen rationalen Rahmen geben. Als eine Form des Messens funktioniert das Vergleichen stets so, dass es sich an einem vorab bestimmten Merkmal (z.B. Gewicht) und ein diesem entsprechenden Maß (Gramm) ausrichtet. So können zwei Objekte (Apfel und Birne) mithilfe einer Messapparatur (Waage) im Hinblick auf ihr Gewicht objektiv miteinander verglichen werden: relativ als leichter oder schwerer, absolut in Grammangaben. Kurz: Apfel und Birne werden merkmalsspezifsch mithilfe eines Maßes verglichen – und immer kommt bei Vergleichen wie diesen Zählbares heraus.

 

Im 19. Jahrhundert hat sich in den Naturwissenschaften neben dem quantifizierenden Vergleichen auch eine Logik des qualitativen Vergleichs etabliert. Alexander von Humboldts Südamerika-Expeditionen sind hier genauso zu nennen wie die vergleichende Anatomie von Georges de Cuvier (vgl. Schriewer 2013: 17) und Charles Darwins Evolutionstheorie. Darwins Theorie "Über die Entstehung der Arten" (1859) basiert auf jahrelanger, minutiöser Vergleichsarbeit. Mit den auf seiner fünf Jahre währenden Foschungsreise auf der HMS Beagle gesammelten Materialien – "1529 in Spiritus konservierte Arten sowie 3907 Felle, Knochen, Pflanzen etc." (Wikipedia-Artikel Darwin, letzter Zugriff 13.05.2015) – schuf Darwin nicht nur die empirische Basis für die Entwicklung seiner Evolutionstheorie. Er hat damit auch wirkmächtig den Wissenschaften den Weg zur empirisch fundierten Theoriebildung gewiesen. Ob in seiner quantitativen oder qualitativen Spielart: In den Naturwissenschaften ist der Vergleich eine conditio sine qua non des Wissen schaffens. Dabei kann analytisch zwischen zwei Weisen des Vergleichens unterschieden werden: dem induktiv angelegten Vergleichen als Suche nach dem Merkmal x, dass a und b gemeinsam ist, und dem deduktiv angelegten a und b auf x hin prüfenden Vergleichen, das fragt, ob (qualitativ) bzw. wie viel (quantitativ) x in a und b enthalten ist und inwiefern a und b im Hinblick auf x gleich, ähnlich oder verschieden sind. So oder so, mit Ernst Mach gesagt: Die Vergleichung ist "das mächtigste innere Lebenselement der Wissenschaft" (zitiert in Mauz / von Sass 2011: 4).

 

 1.6 Der Vergleich als Methode der Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften

Aus Sicht der Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften ist die Frage, ob das Vergleichen den Ansprüchen einer wissenschaftlichen Methode genügt, ebenfalls mit ´Ja` zu beantworten. Indes: Es ist ein ´Ja, aber`. Warum der Vergleich als Methode der ´Humanities` so unverzichtbar wie problematisch ist, lässt sich am Beispiel der Soziologie demonstrieren. Bereits ihr Namensgeber, Auguste Comte (1798-1857), wies dem Vergleich im Rahmen der historischen Methode eine Schlüsselfunktion zu: "Die Vergleichung der geschichtlich einander folgenden Zustände der Menschheit ist das wichtigste wissenschaftliche Hilfsmittel der Soziologie" (1974: 109). In seinen komparativen Analysen ´entdeckte` Comte ein für alle Gesellschaften gültiges Entwicklungsgesetz, demgemäß das erste Stadium, das kindlich-theologische, über das zweite Stadium, das jungenhaft-metaphysische, notwendig zum dritten und höchsten Stadium führt, dem männlich-wissenschaftlichen. Dieses Dreistadienmodell zeigt beispielhaft auf ein Grundproblem des Vergleichens hin. Indem Comte in seinem fortschrittsgläubigen Positivismus das wissenschaftliche Stadium als tertium comparationis für die Beurteilung des Reifegrades von Gesellschaften ansetzte, machte er seine eigene Weltanschauung zum Ankerpunkt des Vergleichs. Derart asymmetrisch angelegte Gesellschaftsvergleiche sind immer schief, weil sie das Eigene als Höchstes zum Maß aller sozialen Dinge erklären. Die Suche nach dem Eigenen im Anderen endet typischerweise mit dem Finden des Fehlenden – und der Selbstbestätigung des hierarchisierenden ethnozentristischen Blicks.

 

Wie Auguste Comte, so betont auch Émile Durkheim die Relevanz des Vergleichs für die Soziologie. Für Durkheim ist der Vergleich nicht eine, sondern die Methode der Soziologie. "Die vergleichende Soziologie ist nicht etwa nur ein besonderer Zweig der Soziologie; sie ist soweit die Soziologie selbst, als sie aufhört, rein deskriptiv zu sein, und danach strebt, sich über die Tatsachen Rechenschaft zu geben" (Durkheim 1984: 216). Aus dem Beschreiben einzelner sozialer Tatsachen und der metaphysischen Spekulation kommt die Soziologie nur über den Vergleich hinaus. In seiner Selbstmordstudie hat Durkheim in Form des Vergleichs von Statistiken, Korrelationen und Erklärungsmodellen beispielhaft vorgeführt, dass und wie in der empirischen Sozialforschung komparatistisch gearbeitet werden kann. Aus der Praxis des Vergleichens ist allerdings weder bei Durkheim noch bei Comte eine Theorie des Vergleichens hervorgegangen. Joachim Matthes zufolge hat sich diesbezüglich in den Sozialwissenschaften seit dem nicht viel getan. In seinem 1992 erschienen Aufsatz The Operation Called "Vergleichen" schreibt er, dass "eine breite und gediegene Auseinandersetzung mit den epistemologischen und methodologischen Aspekten des ´Vergleichens` in den Sozialwissenschaften bislang fehlt" (Matthes 1992: 75).

 

In diesem Sinne hat es auch Max Weber versäumt, dem Vergleichsprinzip im Rahmen seiner Verstehenden Soziologie auf den Grund zu gehen. Im Unterschied zu Comte und Durkheim, die  den Vergleich in Tuchfühlung mit dem naturwissenschaftlichen Methodenideal als Mittel zur Entdeckung sozialer Gesetze begriffen, entwickelte Weber eine Methodologie, in der er das naturwissenschaftliche Konzept kausalen Erklärens mit der geisteswissenschaftlichen Tradition des Verstehens verband: durch den Idealtypus als Vergleichsinstrument – ohne dabei, wie gesagt, auf das Vergleichen als solches explizit einzugehen (vgl. hierzu Raab 2011). Der Idealtypus soll als "gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit" (Weber 1968: 190) ein in sich stimmiges Gedankenbild sein, das dem Verstehen sozialen Handelns als Vergleichspunkt dient. Der Idealtypus hat weder die Funktion Wirklichkeit abzubilden – und er ist auch kein Schema, "in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte" (ebd.: 194) – noch wird er zu dem Zweck konstruiert, dem Sein ein Sollen vorzuhalten. Er ist eine Schablone, durch die man sehen kann, "wie nahe oder fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht" (ebd.: 91). So wird durch das vergleichende Gegeneinanderhalten von Ideal und Wirklichkeit sichtbar, worin – vor dem Hintergrund des Allgemeinen – die Besonderheit des Einzelfalls besteht. Idealtypen sind Sinnsuch-, keine Subsumtionsmaschinen. Im Gegensatz zu Methoden, die der Logik der (Erkenntnis bestätigenden) Übereinstimmung folgen – etwa: eine Aussage ist dann wahr, wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmt – , fordert der (Erkenntnis erweiternde) Idealtypus dazu auf, sich vergleichend zwischen Allgemeinem und Besonderem hin und her zu bewegen. Hierzu passt ein Tagebucheintrag von Wittgenstein: "Nur so nämlich können wir der Ungerechtigkeit - oder Leere unserer Behauptungen entgehen, indem wir das Ideal als das was es ist, nämlich als Vergleichsobjekt - sozusagen als Maßstab - in unsrer Betrachtung hinstellen, & nicht als das Vorurteil, dem alles konfirmieren muß. Dies nämlich ist der Dogmatismus, in den die Philosophie [und die Soziologie, d.V.] so leicht verfallen kann." (1994: 60f.)

 

Der Rückblick auf die Gründerzeit der modernen Soziologie zeigt, dass der Vergleich für die empirische Sozialforschung von fundamentaler Bedeutung ist.[6] Er zeigt aber auch, dass Vergleiche schnell in Schieflagen geraten, wenn sie, bewusst oder auch nicht bewusst, ideologischen Motiven folgen.

 

In Anlehnung an Wilhelm Busch könnte man resümmieren: Vergleichen im Alltag ist nicht schwer, Vergleichen in den Sozialwissenschaften dagegen sehr – dabei ist es gerade die Leichtigkeit des alltagsweltlichen Vergleichens, die dem wissenschaftlichen Vergleichen so zu schaffen macht. Die in Selbstverständlichkeit verborgenen Vergleichsweisen des Alltagsverstandes (und die darin enthaltenen Vormeinungen und Verstehensgewohnheiten) lassen sich nur bedingt bewusst machen und kontrollieren. Deshalb läuft das wissenschaftliche Vergleichen immer Gefahr von alltagsweltlichen Vergleichsroutinen unterlaufen zu werden. In der Sozialforschung ist das Vergleichen immer prekär. Besonders prekär ist es dann, wenn Kulturen miteinander verglichen werden; warum?

 

 

 2. Kulturen vergleichen

Was für den Vergleich im Allgemeinen gilt, das gilt auch für den Kulturvergleich im Besonderen.[7] Zu den Bedingungen seiner Möglichkeit gehören: ein Subjekt des Vergleichs, Objekte, die verglichen werden und ein Vergleichskriterium.

 

Kennzeichnend für den Kulturvergleich ist nun, dass der Blick des Subjekts auf das Objekt Kultur kulturell perspektiviert ist. Menschen sind Kulturmenschen, "begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen" (Weber 1968: 180). Hineinsozialisiert in die relativ-natürliche Weltanschauung einer Gemeinschaft/Gesellschaft (Scheler), eingebettet in selbstverständliche, gemeinsame Lebensweisen (Wittgenstein) und vertraut mit der Typik alltagsweltlich relevanter Situationen, Gegenstände und Symbole (Schütz) richtet sich ihr Fühlen, Wahrnehmen, Wollen, Denken, Sprechen, Deuten und Handeln an bestimmten Werten, Normen, Wissens-, Beziehungs-  und Verhaltensformen aus. Kulturvergleiche finden vor dem Hintergrund dieser kulturellen Prägungen statt.[8] Die Kulturgebundenheit bzw. Seinsgebundenheit des Denkens (Mannheim) bedingt, dass der Kulturvergleich in der Kultur des Vergleichenden verwurzelt ist. Was, wie, woraufhin mit welcher Intention verglichen wird, erwächst aus diesem Woher. Kulturvergleiche finden also nicht in einem kulturellen Vakuum, sondern im Kontext von Kultur als kulturelle Praxis statt. Kulturen von einem kulturneutralen Standpunkt aus mit kulturunabhängigen Kriterien miteinander zu vergleichen, ist unmöglich. Deshalb kann es für Kulturvergleiche auch kein tertium comparationis geben. Die Kriterien des Vergleichs muss der Vergleichende nolens volens der eigenen Kultur entnehmen. Zum Bestand des Eigenen gehört dabei auch das, was in einer Kultur über andere Kulturen gedacht wird. Schließlich sind Kulturen keine autochtonen Wesen, die sich nur zu sich selbst verhielten – dieser Sichtweise hatte Ende des 18. Jahrhunderts Herder den Weg bereitet (vgl. Kurt 2014).  Heute ist es im Kontext konstruktivistischer Kulturtheorie hingegen üblich geworden davon auszugehen, dass sich Kulturen im Wechselverhältnis, in der Konstrastierung von Eigenem und Anderem, konstituieren: "´Eigenes` und ´Anderes` stellen sich im wechselseitigen Bezug her" (Matthes 1992:  95). Der Kulturvergleich ist sogesehen eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit, im Verhältnis zum kulturell Eigenen und kulturell Anderen kulturelle Identität zu konstruieren. Die Geschichte, verstanden als Beziehungsgeschichte (vgl. Osterhammel 2003: 442), gibt dieser Behauptung Recht. "Der Kulturvergleich ist eben eine stets unvermeidliche und lebensnötige Praxis aller Gesellschaften gewesen, weil diese mit- oder gegeneinander leben und stets miteinander rechnen müssen" (Tenbruck 1992: 14). Dass in diesen Vergleichen die Kultur der anderen in der Regel schlechter abschneidet als die eigene, ist nicht verwunderlich. Aus asymmetrischen Wir-Ihr-Differenzen – Griechen vs. Barbaren, Christen vs. Heiden, Zivilisierte vs. Wilde etc. - kann der als überlegen Konzipierte Selbstachtung, Privilegien und unter Umständen auch Missionsaufträge und Rechtfertigungen für Genozide ableiten. Das ist die Denkform des Ethnozentrismus. Wenn umgekehrt eine  andere Gruppe gegenüber der eigenen als überlegen beschrieben wird – wie in Rousseus Konzept des edlen Wilden oder in den Indientexten der deutschen Romantiker (vgl. Kurt 2009: 59ff.), dann wird dies Exotismus genannt.

 

Im 19. Jahrhundert hatte das (zu dieser Zeit noch nicht auf den Begriff Ethnozentrismus gebrachte) ethnozentristische Denken nicht nur den Kolonialismus und den Nationalismus, sondern, siehe Comte, auch den soziologischen Kulturvergleich maßgebend mitgetragen. Solange die Vorrangstellung des Westens für den Westen selbstverständlich war, blieb der ethnozentristische Ansatz alternativlos. Mit dem 1906 von William Graham Sumner geprägten Begriff des Ethnozentrismus – "Ethnocentrism is the technical name for this view of things in which one´s own group is the center of everything, and all others are scaled and rated with reference to it" (Sumner 1906: 13) – erhielten die Kultur- und Sozialwissenschaften eine Kategorie, mit der sich der Glauben des Westens, das Maß aller Dinge zu sein, nachhaltig erschüttern ließ. Auch gut 100 Jahre nach seiner Erfindung hat der Begriff nichts von seiner Schlagkraft eingebüßt: das Damoklesschwert des Ethnozentrismusverdachts schwebt über jedem Kulturvergleich.

 

Im 20. Jahrhundert, beginnend mit Webers religionssoziologischen Studien, verfeinern sich die Methoden des Kulturvergleichs. Als "Sohn der modernen europäischen Kulturwelt" (Weber 1988: 1) vergleicht Weber die Weltreligionen miteinander, um auf diese Weise, in der Abhebung des Eigenen vom Anderen, dem So-und-nicht-anders-geworden-Sein der eigenen Kultur auf die Spur zu kommen. Webers Vorgehensweise war sicherlich ethnozentrisch, ethnozentristisch war sie indes nicht. Sein um Werturteilsfreiheit bemühtes Denken ließ eine solche Haltung gar nicht zu: "Welches Wertverhältnis zwischen den hier vergleichend behandelten Kulturen besteht, wird hier mit keinem Wort erörtert" (ebd.: 14).

 

2.1 Kulturen empirisch vergleichen

Weber betrieb den Kulturvergleich noch (in der Tradition der sogenannten armchair anthropology) als Textvergleich vom heimischen Schreibtisch aus. Dem Paradigma des textvermittelten Verstehens fremder Kulturen setzte Bronislaw Malinowski (1884-1942) die empirischen Methoden der ethnografischen Feldforschung entgegen. Den Schlüssel zum Verständnis anderer Völker sah er in der teilnehmenden Beobachtung. Um den "Standpunkt der Eingeborenen, seinen Bezug zum Leben zu verstehen und sich seine Sicht seiner Welt vor Augen zu führen" (Malinowski 1979: 49), muss der Forscher mit den Eingeborenen leben und versuchen ihre Perspektive zu übernehmen. Nur wer mit den Fremden lebt, kann ihren ´way of life` verstehen – ohne dabei den ständig mitlaufenden Vergleich mit dem Eigenen aussetzen zu können: Jedes Fremdverstehen kommt vom Eigenen her und verläuft deshalb vergleichsbasiert. Kulturen Vergleichende können hieraus die paradoxe Maxime ableiten, dass fremde Kulturwelten vom Eigenen und von innen her erschlossen werden müssen. Wobei prinzipiell fraglich ist, ob bzw. inwieweit sich ethnografisch arbeitende Wissenschaftler als Angehörige einer Kultur überhaupt in Angehörige anderer Kulturen hineinversetzen können.[9] Evans-Pritchard war da skeptisch: "Man kann nicht wirklich ein Zande, Nuer oder ein arabischer Beduine werden" (1988:331). Franz Boas wiederum sprach sich für ein Vergleichsverbot beim Ethnografieren aus, weil, so sein historistisch fundiertes kulturrelativistisches Argument, Kulturen als einzigartige Wesen nur aus sich selbst heraus verstanden werden können.

 

Diese beiden Argumentationslinien lassen sich zu einem doppelten Paradox verknoten: Einerseits: "Wir können nicht anders, als fremde Kulturen nach unseren Standards zu beurteilen" (Cappai 2005: 58). Andererseits: "Man sollte nicht andere Kulturen unter Bezugnahme auf Standards erfassen und beurteilen, die diesen fremd sind" (Cappai ebd.: 56). Und: Fremde Lebenswelten sind nur aus der Binnenperspektive der natives zu verstehen. Versus: Es ist nicht möglich, die Perspektive von Angehörigen fremder Kulturen einzunehmen.

 

Den Über-Forderungen "objektive Analyse von Kultur vs. Unzugänglichkeit von Kulturen"  (Schmidt 2014: 86) ist zum einen entgegenzuhalten, dass Kulturvergleiche beim Eigenen beginnen, aber nicht dort enden müssen (vgl. Matthes 1992: 96). Zum anderen folgt aus der Annahme, dass man Fremdes nicht vollständig verstehen kann, nicht, dass man fremde Kulturen gar nicht verstehen kann. Der Aporien-Knoten des Kulturvergleichs lässt sich nicht theoretisch, sondern nur praktisch lösen. Es gibt keinen Kulturvergleich, außer: man macht ihn.

 

Damit der Kulturvergleich nicht in nostrifizierender (verunsernder) Vereinnahmung und inadäquatem Verstehen stecken bleibt, muss es möglich sein, dass die Empirie der Theorie widersprechen kann.[10] Hier ist einmal mehr auf den Ahnherrn der ethnografischen Sozialforschung zu verweisen. Denn seit der Etablierung der ethnografischen Feldforschung durch Malinowski steht dem Kulturvergleich ein Set empirischer Methoden zur Verfügung, das es ermöglicht, Vergleichsgewohnheiten, kulturelle Vorurteile und Projektionen an der Erfahrungswirklichkeit scheitern zu lassen.

 

Im Scheitern steckt die Chance, den Selbstverständlichkeiten des eigenen Denkens und Deutens auf die Spur zu kommen und zu erkennen, wo kulturell bedingte Vorurteile und Missverständnisse den Blick auf das Fremde (und das Eigene) trüben. Insofern ist das bewusst gesuchte Nicht- oder Missverstehen das beste Mittel, um dem Immer-schon-verstanden-Haben methodisch einen Riegel vorzuschieben. Erst wenn die Wiederkehr sich selbst bestätigender Gedankenkreisläufe durch Widersprüche und Erwartungsenttäuschungen verhindert wird, ist es möglich, das Fremde (und das Eigene) mit anderen Augen zu sehen und ein neues, angemesseneres Verstehen auf den Weg zu bringen. Das produktive Scheitern ist ein Erkenntnisprogramm: "nur der bittere Trank der Enttäuschung sensibilisiert. Der Schmerz ist das Auge des Geistes" (Plessner 1983: 95).

 

 2.2  nomothetisch - idiographisch

 Im aktuellen Diskurs um die Methodologie des Kulturvergleichs kann analytisch zwischen zwei einander entgegen gesetzten Extrempositionen unterschieden werden: der nomothetischen (am Gesetzmäßigen orientierten) Position und der (am Singulären orientierten) idiographischen. In nomothetischer Perspektive zu vergleichen bedeutet, unterschiedliche Kulturen durch die Brille generalisierter Begriffe im Hinblick auf das Vorhandenhandensein vorab bestimmter Merkmale zu untersuchen; zum Beispiel so wie Gert Hofstede in einer Studie für IBM 50 Kulturen entlang der Kriterien ´Individualismus- Kollektivismus`, ´Macht-Distanz`, ´Maskulinität` und ´Ungewissheitsmeidung` miteinander verglichen hat (vgl. Hofstede 1980).

 

In idiographischer Perspektive zu vergleichen bedeutet, durch die Interpretation von Einzelfällen das Besondere und zugleich das Ganzheitliche von Kulturen konstrastiv herauszustellen; zum Beispiel so wie Clifford Geertz in seinen ´dichten Beschreibungen` versuchte, Kulturen als Gewebe aus Objekten, Praktiken und Sinnzusammenhängen zu rekonstruieren (vgl. Geertz 1988).

 

Im Rahmen des idiographischen Ansatzes wird differenzorientiert, kontextsensibel, kulturrelativistisch und Hypothesen generierend verglichen, im Rahmen des nomothetischen gleichheitsorientiert, merkmalfokussiert, universalistisch und Hypothesen testend. Damit sind auch direkt die Gegenstandpunkte der Kritik markiert: Nomothetischen Vergleichen wird vorgehalten, dass sie aus der eigenen Kultur Genommenes ethnozentristisch verallgemeinern, dass sie dem Anspruch eines neutralen, von außen herangehenden (etischen) Forschens nicht gerecht werden können und dass sie den Eigensinn und die inneren Zusammenänge von Kulturen aufgrund ihrer oberflächlichen Merkmalsorientierung gar nicht erfassen können. Idiographische Vergleiche werden kritisiert, weil kulturimmanentes, von innen ansetzendes (emisches) Forschen keine kulturübergreifenden Schlussfolgerungen zulässt und zwangsläufig in einen haltlosen Kulturrelativismus münden muss. Das Dilemma des Kulturvergleichs ließe sich zugespitzt so formulieren: Wie kann es gelingen, den Kulturvergleich zwischen der Skylla ethnozentristischer Universalisierung und der Charibdis kulturrelativistischer Inkommensurabilität hindurch zu navigieren?

 

Weder die Flucht nach vorne noch der goldene Mittelweg dürften hier zielführend sein. Auch Karten und vorausberechneten Kursen ist, wie Bauchgefühlen, nur bedingt zu trauen. Der Königsweg des Kulturvergleichs ist der Zickzackkurs, der sich im Prozess des Vergleichens aus diesem Prozess selbst ergibt.

 

Das ist kein Plädoyer für ein ´Anything goes` im Kulturvergleich. Wissenschaftler müssen wissen, was sie tun, wenn sie Kulturen methodisch kontrolliert vergleichen: Was wird miteinander verglichen? (Merkmale? Artefakte? Singuläre Ereignisse?) Wie wird verglichen? (Diachron oder synchron (vgl. von Sass 2011: 34ff.), ´richtend` oder neutral, standardisiert variablenorientiert oder interpretativ einzelfallorientiert?)  Woraufhin wird verglichen? (Kulturstandards? Kulturelle Besonderheiten? Individuelles?) Wissenschaftler müssen aber auch wissen, dass sie zum Teil eben nicht wissen, was sie tun, wenn sie vergleichen. Sie können nicht immer wissen, von welchen kulturellen Selbstverständlichkeiten ihr Kulturvergleich gerade getragen bzw. getrieben wird. Sie wissen nicht, ob ihre Begriffe und Vergleichskriterien auf andere Kulturen überhaupt anwendbar sind und sie können aufgrund ihrer Außensicht auch nicht wissen, wie in anderen Kulturwelten Menschen ihrem Leben in sozialer Praxis Sinn verleihen. Man weiß es nicht, aber man kann es wissen wollen und sich in das Vergleichen als einen Prozess des Ausprobierens und Irrens hineinbewegen.

 

Im Hin und Her zwischen der Beschreibung und Deutung fremder Kulturen einerseits und der Bestimmung von Vergleichselementen, -kriterien und -zielen andererseits können sich Denkwege eröffnen, die zu Beginn des Vergleichs noch nicht sichtbar waren oder nicht gangbar erschienen. Wenn sich im Vergleichen der Vergleich zu sich selbst verhält, dann kann vieles in Bewegung geraten: Es kann zu Reflexionen auf das kulturell Eigene und das kulturell Andere kommen, zu Perspektivenerweiterungen und Erwartungsenttäuschungen; auch das Woraufhin des Vergleichs kann im Vergleich neu ausgerichtet werden. So gesehen ist der Kulturvergleich eine revisionsoffene, spielerisch probierende Suchbewegung (vgl. von Sass 2011: 38). Idealerweise gelangt er erst in dieser Suche zu seiner (immer vorläufigen) Struktur. Das tertium comparationis ist dementsprechend nicht ex ante festzulegen. Es ist eher "als ein Denkraum zu verstehen" (vgl. Mattes 1992: 96), ein Denkraum, der nicht nur Platz lässt für eine begründet aus den Operationen des Vergleichens hervorgehende Änderung der Vergleichsobjekte, -kriterien und -ziele, sondern der auch offen ist für Kulturkontakte, in denen sich Angehörige der zu vergleichenden Kulturen in wechselseitigem Verstehen begegnen können; zum Beispiel in Form kommunikativer Validierungen, in denen Forscher und Beforschte über die Gültigkeit der Forschungsresultate debattieren oder im Rahmen von Kulturvergleichen, in denen Wissenschaftler aus den zu vergleichenden Kulturen in bi- bzw. multikulturellen Teams zusammen arbeiten. Die Lösung des Problems, wie sich ein Kulturvergleich in diesem Denkraum suchen und finden kann, stellt sich in der Regel erst im Prozess des Forschens ein. Für Kulturvergleiche, die ihr Erkenntnisinteresse auf das Andere anderer Kulturen ausrichten, gibt es keinen Masterplan. Der Weg des Kulturvergleichs entsteht beim Gehen – so auch im folgenden Fall.

 

 3 Kulturen vergleichen. Zum Beispiel Indien und Europa

In dem Buch Indien und Europa. Ein kultur- und musiksoziologischer Verstehensversuch (Kurt 2009) habe ich beschrieben, über welche Irr-, Um- und Sonderwege sich ein Kulturvergleich seinem Ziel nähern kann. An dieser Stelle in die Ich-Perspektive wechselnd, möchte ich hier nun die einzelnen Schritte kurz rekonstruieren, um das in den vorigen Kapiteln über die Theorien und Methoden des Kulturvergleichs Gesagte empirisch zu veranschaulichen.  

 

3.1 Phase 1: Der alltagsweltliche Kulturvergleich

1998 unternahm ich eine vierwöchige Urlaubsreise nach Indien. Die Eindrücke der ersten Tage hielt ich in einem Tagebuch fest:

21.02.1998 Frankfurt, Flughafen

Ob die Inder mich ändern? Lerne ich von ihnen Gelassenheit?

23.02.1998 New Delhi                            

Heute abend habe ich indischen Tanz gesehen. Danach gab es höflichen Applaus aus den Zuschauerreihen. Man verneigt sich respektvoll voreinander mit katholisch aneinander gelegten Händen. Keiner ragt heraus, keiner macht sich zu etwas Besonderem. Sich wichtig zu nehmen ist Sache des Europäers. Ich muss um meine individuelle Bedeutsamkeit kämpfen; ein Hindu hat anderes zu tun. Was? (Kurt 2009: 18ff.)

 

Diese Tagebucheintragungen legte ich einige Jahre später hermeneutisch aus. Beim Verstehen meines Verstehens nahm ich bewusst Abstand von mir: Der Indienfahrer Ronald Kurt ist ein mit klassischen Indien-Vorurteilen – Gelassenheit – bepackter deutscher Tourist, der unter der Voraussetzung, dass Indien anders als Europa ist, seine Auslandserfahrungen auf Fremdheit hin untersucht. Dabei geht er vergleichend vor – Europäer vs. Inder bzw. Hindu –, und nostrifizierend - katholisch aneinandergelegte Hände. Die Beschreibung des Fremden erfolgt hier mit Kategorien der eigenen Kultur. Kennzeichnend für alltagsweltliche Kulturvergleiche ist der unreflektierte und unsystematische Gebrauch kulturspezifischer Denk- und Deutungsgewohnheiten. Nicht selten wohnen diesem vom Eigenen getragenen Fremdverstehen Bewertungen inne, meistens ethnozentristische, manchmal, wie in meinem Fall, exotistische. Dass meine Indien-Verehrung in der deutschen Romantik verwurzelt war, wurde mir erst später klar als ich mich mit den Indienbildern deutscher Dichter und Indologen beschäftigte.

 

 3.2 Phase 2: Der eurozentrische Kulturvergleich

2001 setzte ich den in alltagsweltlicher Haltung begonnenen Kulturvergleich mit wissenschaftlichen Mitteln fort. Ich wies der Musik als universalem Medium kultureller Sinnstiftung die Funktion des tertium comparationis zu und versuchte dann in Anlehnung an die Musiksoziologie Max Webers (2004) im Vergleich der beiden Kulturen von der Rationalisierungsthese auszugehen. Weber fragte sich, warum ausgerechnet im Abendland ein rationales Notensystem, eine rationale Notenschrift und eine rationale Akkordharmonik entstanden sind. Mit dieser Fragestellung erforschte Weber das So-und-nicht-anders-Gewordensein der eigenen Musikkultur, – der Eigensinn anderer Musikkulturen ließ sich mit dieser ethnozentrischen Forschungshaltung indes nicht verstehen. Gleichwohl sah ich in den von Weber herausgestellten Kennzeichen der abendländischen Kunstmusik – insbesondere: Schriftlichkeit, Mehrstimmigkeit und Komposition – ein set von Begriffen, dem sich im Bezug auf Indien die Trias Mündlichkeit, Einstimmigkeit und Improvisation entgegenstellen ließ. Diese Gegensatzpaare sensibilisierten für Differenzen und dienten fürderhin als tertia comparationis des Kulturvergleichs.

 

3.3 Phase 3 Der ethnographische Kulturvergleich

Um nicht eigene Vormeinungen in fremde Lebenswelten hineinzuprojizieren und um mir das Subsumieren des kulturell Anderen unter Kategorien der eigenen Kultur so schwer wie möglich zu machen, versuchte ich im nächsten Schritt, mir die Musik Indiens ethnografisch zu erschließen. Auf einer von der DFG finanzierten Forschungsreise lernte ich im Frühjahr 2002 die soziale Praxis der indischen Musikkultur gleichsam von innen kennen. Allerdings: Die klassischen Methoden der Ethnografie – Beobachten, Fotografieren, Dokumente sammeln und Interviews führen – brachten mich auf der Suche nach einer Antwort auf die Goffmansche Frage ´Was ist hier eigentlich los?` nicht weiter. Das in sprachloser Selbstverständlichkeit verborgene Theorie- und Praxiswissen der indischen Musiker blieb mir trotz zahlreicher Gespräche und Konzertbesuche verschlossen. Ich musste mich im Denkraum meines Kulturvergleichs neu orientieren.

 

 

 

3.4. Phase 4 Der dialogische Kulturvergleich

Mit der Intention, von der Außenseite zur Innenseite des Geschehens vorzudringen, nahm ich noch während desselben Forschungsaufenthaltes in New Delhi die Rolle des Gesangsschülers ein. Über das Erlernen indischer Musik wollte ich erforschen, in welcher sozialen Beziehungsform welches musikalische und sozialkulturelle Wissen wie vermittelt wird. Dabei hoffte ich davon zu profitieren, dass die Explikation impliziten Wissens zur Logik des Lehrens gehört – weil Lernende Fehler machen und die Lehrenden diese Fehler erkennen und korrigieren müssen. Daraus wurde ein Forschungsprogramm: Über eine Rollenübernahme Eintauchen in eine andere Lebenswelt und anhand der eigenen Fehler und Fortschritte autoethnografisch das Fremde verstehen.

 

Indem ich den Kulturvergleich im Musikunterricht als interkulturelle Kommunikation fortführte, verwickelte ich mich und meinen Lehrer in einen Verstehensprozess, in dem wir uns wechseleitig zur Explikation kultureller Eigenheiten zwangen: ich setzte auf das Medium Schrift – er auf die Unmittelbarkeit der face-to-face-Interaktion, ich hörte Ton für Ton – er verstand Musik mikrotonal, ich wollte Kompositionen kennen lernen – er wollte mich das Improvisieren lehren (vgl. hierzu meine auf Videodaten gestützte Einzelfallanalyse in  Kurt 2009: 145ff.). Die Eigenheiten der europäischen und indischen Musikkultur erhellten sich in dieser dialogischen Kontrastierung gegenseitig. Die Gegensatzpaare Schriftlichkeit – Mündlichkeit, Mehrstimigkeit – Einstimmigkeit und Komposition – Improvisation stellten sich dabei als für meinen Kulturvergleich viabel heraus.

 

  3.5. Phase 5 Der kooperative Kulturvergleich

Ausgehend von der aus der Not einer ethnografischen Krise geborenen Idee, den Kulturvergleich als Dialog weiterzuführen, erarbeitete ich 2005 ein Konzept für ein interkulturelles Lehr- und Lernprojekt, das 2005 in Zusammenarbeit mit der Folkwang Universität Essen und Gandharva Mahavidyalaya, einer Musikschule in New Delhi, realisiert werden konnte. Der Leitgedanke des Projekts: Europäische Musikstudenten lernen von indischen Musiklehrern und indische Musikstudenten lernen von europäischen Musiklehrern, um dann nach einer zweiwöchigen Phase des Lehrens und Lernens (in der Folkwang Universität Essen) die Ergebnisse ihres musikalischen Dialogs in einem öffentlichen Konzert (in der Philharmonie Essen) zu präsentieren.

 

Das Projekt war so angelegt, dass die indischen und europäischen Musiker voneinander lernen und kooperieren mussten, um im Abschlusskonzert miteinander musizieren zu können. Zum wechselseitigen Verstehen und Vergleichen genötigt, entwickelten sie eine Reihe von Lehr- und Lernstrategien (vgl. Kurt 2009: 159ff.). Sie demonstrierten in Wort und Ton, was für die eigene Musikkultur charakteristisch ist, sie grenzten das ihnen Vertraute von dem ihnen Fremden ab und sie übersetzten Klänge von einer Musiksprache in die andere. An dieser Stelle möchte ich kurz auf eine meiner Meinung nach sehr gelungene Kulturübersetzung eingehen. 

 

Ein deutscher Schlagzeuger versuchte einen typisch indischen Break europäisch zu notieren und musste dabei feststellen, dass sich das indische Rhythmuspattern nur mit größter Mühe in das europäische Taktformat hineinpressen ließ. Auf seine westliche Notation zeigend, sagte er: "Man sieht das ja. Es ist total komisch aufgeschrieben. Hier ist ein Dreivierteltakt, da ist ein Viervierteltakt, hier ist ein Einvierteltakt. Dann wird das wiederholt, nur ohne Wiederholung, dann kommt das noch zweimal hintereinander." ´Europäisch` betrachtet schien das alles unfassbar kompliziert zu sein; ´indisch` betrachtet war es genau das nicht. In diesem Fall war eine Beobachtung der Schlüssel zum Verstehen. Der Schlagzeuger sah, wie die indischen Musiker Rhythmen an ihren Fingergliedern abzählten (vier Schläge pro Finger) und ließ sich dann von seinem Tablalehrer das Prinzip erklären. "Er hat mir das an den Fingern gezeigt, dann ist das total logisch."  So lernte der Schlagzeuger Rhythmen indisch abzuzählen (vgl. hierzu ausführlich Kurt 2009: 165f.). Der Sprung in die Zeichenwelt der fremden Musikkultur hatte sich gelohnt. Als es nicht gelang, das indische Rhythmuspattern in europäischer Notation zu nostrifizieren, der Versuch, das Fremde mit Vertrautem zu entfremden also scheiterte, ließ sich der Schlagzeuger darauf ein, Indisches mit Indischem zu erklären. Auf der Suche nach dem Anderssein des Anderen hat sich der Schlagzeuger in die Sinnwelt der indischen Musikkultur hineinbegeben. Anstatt von einer Welt in die andere Welt zu übersetzen, begann er die indische Musik von innen her, als ein Gewebe aus Dingen, Klängen, Regeln, Zeichen und Bedeutungen zu verstehen, das sich im Kontext sozialer Praxis konstituiert. So fasst man Fuß im Sinnnetz einer fremden Lebenswelt, und so kann das Verstehen auch unendlich weiter gehen. Das ist das Prinzip der kontextuellen Sinnrekonstruktion. Geschehen diese "kontextuellen Rekonstruktionen auf beiden Seiten", dann kann sich im Dialog ein Verstehensprozess entzünden, der geradewegs "ins Herz des kulturellen ´Vergleichens` hineinführt" (Matthes 1992: 96).

 

Jeder Kulturvergleich ist anders. In jedem Fall aber ist Balance zu halten zwischen der Suche nach allgemeinen Vergleichskriterien und der Suche nach dem, was das Besondere einer Kultur ausmacht. 

 

 

 Literaturverzeichnis

 

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[1] Im Grimmschen Wörterbuch bedeutet Vergleichung: "nebeneinanderstellung zweier ähnlicher dinge behufs gleichstellung oder behufs kritischer hervorhebung der ähnlichkeiten und unähnlichkeiten" (Grimm 1956: 459). Zum Vergleich hier die Wikipedia-Definition des Begiffs ´Vergleichen`: "das Nebeneinanderstellen von zwei oder mehr Gegenständen, Ideen, Personen, um herauszufinden, ob und wie sie sich hinsichtlich eines bestimmten Kriteriums ähneln" (Wikipedia-Artikel Vergleichen; letzter Zugriff 13.05.2015). Im Vergleich stellen sich die Vergleichs-Definitionen als sehr ähnlich heraus.

[2] In seinen Ausführungen zum beziehenden Betrachten betont Husserl, dass bei der Erfassung eines Gegenstandes ein ausschließlich auf diesen bezogenes Betrachten die Ausnahme ist. "Zumeist wird er gleich von vornherein in Beziehung gesetzt zu anderem, mit ihm im Erfahrungsfelde gegebenen, mitaffizierenden Gegenständlichkeiten" (Husserl 1972: 171). Beziehendes Betrachten beginnt also nicht dort, "wo Gegenstände sozusagen zusammenhangslos in das Bewusstsein hineinschneien" (Husserl 1972: 221). Es beginnt dort, wo Betrachtetes auf anderes in Betracht Kommendes bezogen und dann mit diesem in ein Verhältnis gesetzt wird: "Beim Übergang der Erfassung von dem A zu dem gleichen oder ähnlichen B wird im Bewustsein das B mit dem noch im Griff gehaltenen A zu überschiebender Deckung gebracht, und es deckt sich in beiden Gleiches mit Gleichem, während das Ungleiche in Widerstreit tritt" (Husserl 1972: 224).

[3] Auf der Kinderseite vieler Tageszeitungen steht oft über zwei sehr ähnlich aussehenden Bildern die Aufgabe: ´Suche die 10 Unterschiede`. Das Suchen besteht darin, im Vergleichen ein Merkmal des einen Bildes als gemeinsames Drittes für den Vergleich mit dem anderen Bild anzusetzen. Etwa, indem die gelb gezeichnete Sonne auf dem einen Bild als Vergleichspunkt für das andere Bild angesetzt wird. Auf die Frage, ob auch Kulturen auf diese Weise miteinander verglichen werden (können), wird noch einzugehen sein.

[4] Der Begriff ´beziehendes Betrachten` zeigt, dass Husserl sich in seiner Analyse der Wahrnehmung nicht nur inhaltlich, sondern auch begrifflich vorrangig am Sinn des Sehens orientierte. Das im Bezug auf das Sehen Behauptete gilt aber z.B. auch für das Hören: Beim Musikhören wird man sich kaum dagegen wehren können, den gerade gehörten Klang mit dem vorherigen und dem nachfolgenden Klang in ein Vergleichs-Verhältnis zu setzen.

 [5] "Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen". "So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet" (Nietzsche 1999: 880).

[6]  In der gegenwärtigen Sozialforschung spielen Vergleichsmethoden eine zentrale Rolle, in der quantitativen (z.B. in Länderstudien wie PISA) genauso wie in der qualitativen (z.B. in den Sampling- und Kontrastierungsverfahren der  Grounded Theory und der historisch-rekonstruktiv  ansetzenden wissenssoziologischen Hermeneutik; vgl. Raab 2011 und Cappai/Shimada/Straub 2010).

[7] Bereits Anfang der 90er Jahre schrieb Tenbruck, dass  der "Kulturvergleich heute in den Sozialwissenschaften als eine selbstverständliche, ja sogar als wichtigste Aufgabe (gilt)" (Tenbruck 1992: 13). Nun, gut 20 Jahre später, ist der Kulturvergleich nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern in nahezu allen Sphären der Gesellschaft allgegenwärtig: im multikulturellen Alltagsleben und in den Massenmedien genauso wie in den globalisierten Sphären des Sports, der Kunst, der Wirtschaft und der Politik. Im Übrigen meinte schon Nietzsche sich im "Zeitalter der Vergleichung" zu befinden und behauptete, "dass in ihm die verschiedensten Weltbetrachtungen, Sitten, Kulturen verglichen und nebeneinander durchlebt werden können" (zitiert in Raab 2011: 111).

[8] Indes: Menschen sind keine von Kulturprogrammen determinierte Maschinen. Gegen das Argument der kulturellen Determinierung ist immer auch hervorzuheben, dass Subjekte (von lat.: ´sub` (unter) und ´iacere` (werfen)) keine Unterworfenen sind, sondern im Sinnhorizont ihrer Lebenswelt als individuelle oder kollektive Akteure stets sinnstiftend als Kulturschaffende aktiv werden können. Alles, was ist, könnte auch anders sein - und anders werden. Kultur ist kontingent. Alles von Menschen Gedachte, Gemachte und Getane hätte auch anders gedacht, gemacht und getan werden können, -  Kulturen sind immer auch veränderbar.

[9] Problematisch erschien auch die Machtposition, die der Ethnograf als Autor hatte: "Besitzgefühl: Ich bin es, der sie beschreiben oder erschaffen wird" (Malinowski 1986: 146). Zunächst ohnmächtige Objekte westlicher Begierden und Essenzialisierungen ohne eigene Stimme, ergriffen die kolonialistisch Ethnografierten dann in Frontstellung zum Westen später selbst das Wort.

 [10] Bei der Nostrifizierung handelt es nach Matthes "um eine Aneignung des anderen nach eigenem Maß" (1992: 84). Wird Fremdes dem Vertrauten zugeordnet, dann wird nicht ver-, sondern ab- bzw. angeglichen.